Prozess gegen Milosevic

Ein Mythos vor Gericht

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Ein Mythos, sagt Georges Sorel, ist eine »Ordnung von Bildern«, die sich zu einem »Gesamtbild« verdichten, das, rational unwiderlegbar, den jeweiligen Weltanschauungen ein »Höchstmaß an Spannkraft« verleiht. Der hierzulande vorherrschende Mythos über jenen Mann, gegen den seit zwei Wochen vor dem UN-Tribunal in Den Haag verhandelt wird, lautet: Milosevic hat das alte Jugoslawien mit seiner großserbischen Politik zerstört, Milosevic ist Schuld an drei bis fünf Balkan-Kriegen, Milosevic ist Stalinhitler, mindestens.

66 Punkte umfasst die Anklageschrift gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten, mit denen ihn die Ankläger um Carla del Ponte des Völkermordes, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen an der Menschheit überführen wollen. Darunter finden sich die Attentate auf den Markplatz von Sarajevo sowie die Ereignisse von Racak. Zwei von vielen Fällen, in denen viele Indizien gegen die kolportierte Version sprechen.

In einem anderen zentralen Punkt - Srebrenica - ist die von der Anklage behauptete individuelle Verantwortung Milosevics höchst zweifelhaft. Juristisch geahndet werden kann aber nur diese. Zeugen wie der kosovo-albanische Politiker Mahmut Bakalli jedenfalls konnten mit ihren windigen Aussagen die Vorwürfe nicht erhärten. »Allzu oft musste der Zeuge zugeben, sich nicht zu erinnern oder gar sich geirrt zu haben«, musste die Frankfurter Rundschau einräumen.

Allein, es ist egal. Slobodan Milosevic kann sich noch so überzeugend darum bemühen, einzelne Anklagepunkte zu entkräften. Der Mythos ist immun gegen rationale Argumente. Entsprechend kaltschnäuzig kommentierten die deutschen Medien Milosevics Aussagen: »Unbelehrbar« und »aggressiv« sei er aufgetreten, ein »demagogisches Meisterstück« habe er abgeliefert und doch nur, »entrückt«, wie er ist, nicht mehr als seine »autistische Sicht« dargelegt. Da der Sachverhalt als geklärt gilt, hält es niemand für nötig, sich inhaltlich mit seinen Erklärungen - etwa über die Rolle des Auslands, insbesondere Deutschlands bei der antijugoslawischen Subversion - zu beschäftigen. »Starke, aber leere Worte.« Abgeschmettert. Fertig. Alles spricht dafür, dass der Prozessausgang feststeht, auch wenn nur wenige wie der taz-Korrespondent Erich Rathfelder dies gleich hinauskrakelen: »Dabei ist jetzt bereits klar, wer die politische Verantwortung für das trägt, was geschehen ist: Slobodan Milosevic.«

Dass die Serbenfresser in den Medien, die an der Produktion des Mythos Milosevic mitgewirkt und den Nato-Krieg gegen Jugoslawien unterstützt haben, unbeirrt an ihrer Sicht der Dinge festhalten, ist nicht verwunderlich. Aber etwas anderes sollte auffallen: Dieselben Blätter, die heute auf den hinteren Seiten nachträglich den Kosovo-Krieg legitimieren, prangern vorne die »Bush-Krieger« an (Spiegel). Denn die Zerschlagung des »Völkergefängnisses Jugoslawien« (auch Spiegel) war ein deutsches Projekt, bei dem die USA immer wieder der Entwicklung hinterjagten.

So galt die UCK in Washington noch als Terrorgruppe, als Deutschland ihr schon die Uniformen geliefert hatte. Die US-Intervention erfolgte erst, als die Eskalation nicht mehr aufzuhalten war und richtete sich nicht nur gegen Belgrad, sondern sollte auch Berlin zurückdrängen. Der Krieg den Terror hingegen ist ein amerikanisches Unterfangen, das Deutschland zwar als willkommener Anlass dafür dient, die Aufrüstung nach innen und außen voranzutreiben, dessen Feinde aber nicht die Feinde Deutschlands sind.

So wie das Urteil gegen Milosevic absehbar ist, so richtig ist es, seine Freilassung zu fordern. Und zwar ohne - wie so manche seiner nicht immer sympathischen Unterstützer - im selben Atemzug einen Katalog von Personen vorzuschlagen, die an seiner Stelle auf die Anklagebank gehörten. Erst recht nicht, wenn die Anklage auf Verbrechen an der Menschheit lautet und Deutschland auf Seiten der Anklage steht.