Meine Zeit in der Hölle XV

Perfektes Leben

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Berlin. Freitagabend. Spätwinterliches Scheißwetter. Also schnell rein in den Gropiusbau. Roter Teppich für Rollstuhlfahrer. Auch für meine Freundinnen und mich. Top Event. Eröffnung der Ausstellung »Der im-perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit«. Wir natürlich mittendrin. Allesamt schön, gute Zähne, Haare auch okay. Außer einem einzelnen welligen Zehennagel wegen einer Vitaminmangelerscheinung meinerseits ist alles bestens. Schade nur, dass sich die atemberaubende Alexa schnell wieder absetzt.

Migräne? Keine Ahnung. Plötzlich sind alle mir bekannten Gesichter weg. So schnell schon an der Bar? Habe dem Alkohol seit drei Wochen abgeschworen. Persönlichkeitsbildende Maßnahme. Das Rauchen vor sieben Jahren aus Geiz aufgegeben. Was tun? Nötige mich selbst zur Zerstreuung. Herumschlendern. Erste Lektion: Kommunikation ist Arbeit.

Keine weiteren interessanten Menschen da. Alle wirken erschreckend normal. Wenig Glamour, kein Pop. Ich schaffe es nicht einmal, irgendeinen der ratlosen Fotografen für mich und mein Superman-T-Shirt zu interessieren. Wirkung total verfehlt. Werde beim Studieren einer ausstellungsbezogenen Texttafel von einem Besucher unsanft zur Seite geschoben. Wirke wohl nicht blind genug. Zwei Ohren. Zwei Beine. Alles noch dran. Aber es geht doch auch um Befindlichkeiten. Gefühlsinnereien. Deswegen die vielen hochschwangeren Mittdreißiger. Zweit- und Erstgebärende, stillende Mütter mit Kleinkindern, Väter mit Neugeborenen. Gruppendynamik. Ich habe natürlich mal wieder vergessen, mein Kind mitzubringen. Zweite Lektion: Isolation macht einsam.

Massen am Getränkeausschank. Den ganzen Abend Bier und Wein umsonst. Ein Hochgenuss an Selbstkontrolle für den ungeübten Nichttrinker. Drängelnde Menschen. Unpersönliche Rempelei. Dass der Geräuschpegel auch für Hörgeschädigte ein Problem darstellt, wird in 15 Jahren einer topaktuellen amerikanischen Studie zu entnehmen sein. Wissenschaft braucht Zeit. Ich viel eher einen guten Abend. Musik und ins Ohr gebrüllte, nutzlose Satzfetzen. Träume von Rauschzuständen, die selbst einen Gebärdesprechenden lallend machen würden. Scheint, als würde Wasser mehr als Bier treiben. Auf der behindertengerechten Damentoilette erklärt ein junger Mann vom Personal den Spülknopf mit »hier drücken«. Dritte Lektion: Anpassung ist schwer.

Wieder auf der Treppe. Brezelüberschuss abarbeiten. Leere Gläser festhalten. Blinde beobachten, denen es gar nicht schwer fällt, auch an den Massen vorbei die herrschaftliche Freitreppe hinunterzukommen. Profis eben. Alle saufen sich die Hucke voll. Alle außer mir und den jungen Leuten der Johanniter Unfallhilfe. Die Jugend komplett in Weiß. Die Führungsriege wie immer unverkennbar in Rot eingeschweißt. Hosen und Jacken mit modischen Leuchtstreifen. Hier führt man sich gesunden Orangensaft in kleinen wohl dosierten Mengen zu. Hübsche Gläser. Sehr praktisch. Habe aber leider keine passende Tasche dabei. Vierte Lektion: Perfektion will gelernt sein.

Muss auf den Frühling warten. Darauf, dass dieser Winter Vergangenheit wird. Der perfekte Sommer. Und ich mittendrin. Eine Frau mit kleinen Fehlern. Sternhagelvoll.