Das Dilemma der Gewissheiten im israelisch-palästinensischen Konflikt

Kein Ausweg und keine Alternative

Die gängigen Erzählungen über den aktuellen israelisch-palästinensischen Konflikt können das Scheitern des Friedensprozesses, den die Vereinbarungen von Oslo einleiten sollten, nicht erklären. Tsafrir Cohen beschreibt, wie bereits während der von Barak und Arafat geführten Friedensverhandlungen Positionen erkennbar wurden, die die andere Seite nicht akzeptieren konnte.

enin gleicht einem Erdbebengebiet. Israelis, die ein Restaurant besuchen, fühlen sich, so eine stehende Redewendung, wie »Soldaten an der vordersten Kampffront«. Arafat kann laut Agenturmeldung »nicht einmal die Toilette im Obergeschoss seines Bürokomplexes spülen«, geschweige denn seinen Amtsgeschäften nachgehen. Und im israelischen Kabinett sitzt Effi Eitam, der messianische Ex-General, dessen rechtsradikale und esoterische Ansichten seine Entlassung aus der israelischen Armee nach sich zogen.

Noch bis vor anderthalb Jahren hätte eine solche Zustandsbeschreibung nur in einem Weltuntergangsroman stehen können. Damals bestaunte die Welt die bevorstehende Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts und die Vision eines »neuen« Nahen Ostens.

Die radikale Veränderung der Situation lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen: das Scheitern der Gespräche zwischen Barak und Arafat und die dem zugrunde liegende schwer überbrückbare Diskrepanz zwischen den verschiedenen Diskursen der jeweiligen Seite. Letzteres wiegt offensichtlich schwerer als der gewiss vorhandene Wille zur Lösung des Konflikts und die Bereitschaft, Realpolitik walten zu lassen und auf Maximalforderungen zu verzichten. Im Zusammenspiel mit einer deutlichen Kluft zwischen den Bekundungen und den Taten der jeweiligen Partei entstand die explosive Mischung, die zur jetzigen Situation geführt hat.

Von Forderungen und Angeboten. Als Ehud Barak, der Vorsitzende der Arbeitspartei, an die Macht kam, versprach er Frieden innerhalb eines Jahres. Er hatte gewiss den Ehrgeiz, dieses Versprechen einzulösen, es war vielleicht auch ein wenig Wahlkampf- und Siegeseuphorie, doch der Unterton war klar: Er, der (erst kurz zuvor ausgeschiedene) Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte, werde es schon richten.

Barak ging mit seinen Zugeständnissen an die Palästinenser viel weiter, als jeder israelische Premier vor ihm. Er erklärte sich bereit, auf 91 Prozent der besetzten Gebiete und auf Teile Ostjerusalems zu verzichten, die zu annektierenden restlichen neun Prozent durch Gebietstausch zu kompensieren und eine vage »befriedigende Lösung« der Flüchtlingsproblematik im Vertrag festzuschreiben.

Tatsächlich aber blieb das Angebot unter den Minimalforderungen der Palästinenser. Baraks Plan sah vor, dass das Westjordanland, etwa 6 000 Quadratkilometer groß, durch zwei Siedlungsschneisen durchschnitten werden sollte, die eine zwischen dem nördlichen Drittel des Gebietes um die Siedlung Ariel und dem Süden, die zweite um Jerusalem, zwischen dem südlichen Drittel und dem Norden. Als Folge wäre der palästinensische Staat praktisch dreigeteilt. Ein Palästinenser, der auf der einen Seite einer solchen Schneise wohnt, müsste einen enormen Umweg machen, um an ein eigentlich nahe gelegenes Ziel auf der anderen Seite zu gelangen. Abgesehen davon beherbergen die laut Vorschlag zu annektierenden neun Prozent des Gebiets etwa 40 Prozent der palästinensischen Wirtschaftskraft und einen Großteil der Wasserressourcen. Die arabisch bevölkerten Viertel in der Altstadt Ostjerusalems sollten palästinensisch werden, doch die umliegenden Dörfer, die von Israel als Teil von Großjerusalem annektiert wurden, sollten nicht dazu gehören. Das aber hätte zur Folge, dass die palästinensischen Viertel versprengte Inseln innerhalb des israelischen Gebiets würden. Darüber hinaus wollte Barak den Palästinensern die zivile Lufthoheit und die Hoheit über ihre künftige Grenze mit Jordanien nicht überlassen.

Der israelische Grundkonsens

In Camp David traf sich Barak im Jahr 2000 nur kurz, aber voller Verachtung, mit Arafat, dem er sein Angebot ohne Verhandlungen aufdrücken wollte. Seine Rhetorik offenbarte exemplarisch das Denkmuster, das sich bis tief in die Reihen der Linken durchgesetzt hat. Es ist die Mentalität des Eroberers gegenüber dem Beherrschten, die sich in einer über 30jährigen Herrschaft verfestigt hat: der Gegenseite etwas schenken, mit ihr jedoch nie auf Augenhöhe sprechen.

Doch hätte der Verlauf der Verhandlungen allein nicht zu ihrem Scheitern geführt. Die Grundzüge des von Barak unterbreiteten Angebots waren darüber hinaus durch die Geschichtsschreibung des israelischen Gründungsmythos geprägt, die die andere Seite nicht akzeptieren konnte.

Als der Zionismus erstmals die Weltbühne betrat, sollte er eine Antwort auf den nationalen Wahn in Europa, auf den Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts, versinnbildlicht etwa in der Dreyfusaffäre und im Wagnerwahn, sowie auf die Judenverfolgung, die Pogrome vor allem in der Ukraine, geben. Die Jahrtausende alte Verfolgung der Juden durch die Christen sollte ein Ende finden. Doch war der Zionismus auch ein Kind seiner Zeit. So wurde - in bester kolonialer Tradition europäischer Provenienz - von einer kaum besiedelten Wüste, Palästina, die man befruchten müsse, gesprochen, einer Art Mondlandschaft, die als Heimat des jüdischen Volkes fungieren sollte. Der »neue Jude«, der den Zionisten vorschwebte, war das Gegenteil vom Diasporajuden, keine ewig gedemütigte Minderheit, nie wieder machtloses Opfer.

Ein grundlegender Strang dieser Erzählung war, die Juden müssten sich immer gegen eine sie grundlos anfeindende Umwelt verteidigen.

Der zionistische Grundkonsens in Israel (an dem auch die israelische Linke festhält, da schließlich ihre Hauptorganisation, die Arbeitspartei, den Staat fast in Eigenregie gegründet und von der Staatsgründung 1948 durchgehend bis 1977 auch den Premier gestellt hat) verhinderte es zu akzeptieren, dass die gerechte Lösung für die Juden zugleich ein Unrecht an einer Bevölkerung einschließt, die geschichtlich keinen Anteil an der Verfolgung der Juden hatte - hierauf und auf den Antisemitismus hat nun mal die europäisch-christliche Kultur ein exklusives Copyright. Im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit hätte der jüdische Staat schließlich in der Ukraine oder in Bayern errichtet werden müssen.

Nur ein Teil der so genannten radikalen Linken in Israel ist der Überzeugung, dass, auch wenn das geschehene Unrecht zugegeben wird, die Existenzberechtigung Israels heute keinesfalls unterminiert würde, vorausgesetzt, es ließe sich eine Kompromisslösung finden.

Der israelische Grundkonsens enthält einen wahren Kern, deshalb ist er so schwer angreifbar und auch für Linke so verführerisch: Die Tatsache, dass die Juden seit jeher die Opfer von Verfolgung waren, ist spätestens seit der Shoah nicht zu leugnen. Doch eben die Shoah verstärkte den Trugschluss, die Rolle der Juden in der Weltgeschichte sei stets die der Guten, die angegriffen werden.

Der israelische Gründungsmythos wird als die Geschichte einer kleinen, heroischen Minderheit erzählt, die es - gegen die gesamte, grundlos feindlich gesinnte arabische Welt - fertig gebracht hatte, sich zum ersten Mal nach 2 000 Jahren zu wehren, einen eigenen Staat against all odds zu gründen und das Brachland zu befruchten. Der »neue Jude« ward geboren: stark, aber gerecht.

Auch für die Palästinenser ist die Erzählung klar

Ohne die Anerkennung der palästinensischen Tragödie und der Tatsache, dass Unrecht geschah, kann es für die Palästinenser keinen gerechten Frieden geben. Die Palästinenser führen ihren Kampf selbst als einen Kampf um ihre Identität, als einen Unabhängigkeitskrieg, bei dem es auch um die Durchsetzung einer eigenen Geschichtsschreibung geht, die von der Außenwelt wahrgenommen werden will.

Und auch für die Palästinenser ist die Erzählung klar. Sie hatten friedlich in ihren Dörfern und Städten gelebt, bis eines Tages die ersten Siedler aus Europa kamen. Mit den ankommenden Juden hatten sie keine Feindschaft, bis sie feststellen mussten, dass es zu einer jüdischen Massenemigration nach Palästina kommen würde und ein jüdischer Staat dort gegründet werden sollte, an dem man sie nie teilhaben lassen wollte. Den Krieg gegen die westliche Immigration verlor das arme Bauernvolk unter enormen Verlusten, es wurde vertrieben oder flüchtete und lebt seitdem in Flüchtlingslagern außerhalb der Heimat, auf die Rückkehr in diese Heimat wartend.

Darin liegt die explosive Gewalt der Flüchtlingsfrage. Denn die Flüchtlinge sind der lebende Beweis für das palästinensische Leid, für die Vertreibung einer Zivilbevölkerung aus ihren seit Generationen bewohnten Häusern und Dörfern. Von ihrer Warte aus sind ihre Forderungen klar und gemäßigt: Alle 1967 besetzten Gebiete müssen samt dem 1967 eroberten Ostjerusalem (vielleicht ohne die Klagemauer und das jüdische Viertel) zum Staat Palästina gehören, die konkrete Lösung der Flüchtlingsfrage muss fester Bestandteil des endgültigen Friedensvertrages sein. Den Palästinensern scheint das wenig, haben sie damit Anspruch auf gerade 23 Prozent Palästinas.

Neue Stufe der Konfrontation. Als die Palästinenser den Friedensplan ablehnten, war der Aufschrei groß. Nicht einmal Barak, der Ritter der israelischen Tauben, von der rechten Opposition als Verräter beschimpft, gehe den Palästinensern weit genug. Dabei erreiche er, was seine »Zugeständnisse« angeht, einen Punkt, so die offizielle israelische Lesart (übrigens flankiert von der Clinton-Administration), wo zuvor nur Israels kleine radikale Linke zu orten war. Er wusste keinesfalls die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Die israelische Linke fühlte sich von der Gegenseite regelrecht verraten und zerfiel innerhalb von wenigen Monaten. Für sie stellte die Ablehnung des Barak-Plans den Beweis dar, dass es den Palästinensern nicht um eine Kompromisslösung geht, bei der die 1967 besetzten Gebiete Gegenstand der Verhandlungen sind, sondern dass sie letztlich nicht die Existenz Israels anerkennen können und sie revidieren wollen. Daher könne Arafat auch keinen Friedensvertrag unterschreiben, der endgültig die Teilung des Landes besiegelt. Alles andere sei nur Taktik. Oder wie es der Chefkommentator der linksliberalen israelischen Tageszeitung Ha'aretz formulierte: »Der wirkliche Disput ist nämlich, ob Arafat bei seinen Unternehmungen auf eine Versöhnung zwischen den Völkern zielt, auf einen auf Ausgleich basierenden Friedensvertrag ..., während, den Palästinensern nach, der Krieg gegen Israel und das gesamte jüdische Volk zur Diskussion steht.«

Jetzt also ging es wieder zu wie in alten Zeiten, als der Staat jung war und die Bevölkerung klein und schlecht gerüstet, so die israelische Geschichtsschreibung, und der Gegner viele, allesamt feindlich gesinnt. Es ging um die nackte Existenz des jüdischen Staates. Damit war der Weg frei für eine hastige Rückkehr in die Nestwärme einer Konsensgesellschaft, die ihres Weges sicher ist und jede Situation, auch Bomben und Tote, meistern kann, mit der Kraft, die jene Gewissheit mit sich bringt, keinen anderen Ausweg, keine Alternative parat zu haben, als sich, sein Haus und seine Kinder zu verteidigen.

Das Problem auf der palästinensischen Seite liegt weniger an ihren Positionen als an ihrer Schwäche. Dadurch ist der Spielraum ihrer Führung gering, die Konsequenz ist eine zunehmende Radikalisierung der Straße und Entfremdung von der eigenen Führung. Das öffnet den Radikalen die Möglichkeit, Einfluss zu gewinnen. Damit sind Taten auf der Tagesordnung, die eine mögliche Lösung noch weiter verzögern, wenn nicht ganz unmöglich machen können. Bleierne Zeiten.

Tsafrir Cohen arbeitet als Journalist und Essayist für hebräische und deutschsprachige Medien. Er ist in Israel und Kanada aufgewachsen. In Berlin, wo er seit 1986 lebt, gründete er das Jewish Film Festival.