Der 11. September und die Kulturindustrie

Alles war, wie es vorher ist

Zum 11. September spuckt die Kulturindustrie ihre Memos aus.

Spätestens seit dem Selbstmord ihres Mannes Curt Cobain spielt Courtney Love in der International Jet Set-Liga, wo es keine Grenze zwischen Realität und Fake gibt. Die Spielregeln des Fake hat sie formuliert in »Doll parts«: »My fake is so real I am beyond fake.« Niemand käme auf die Idee, Love-News anzuzweifeln, weil niemand auf die Idee käme, Love-News beim Wort zu nehmen. Wie Märchen und Sagen erzählen Love-News tiefere Wahrheiten:

»Die Sängerin Courtney Love (Hole) hat sich nach den Terrorangriffen vom 11. September bei der Marine zum Dienst beworben und eine Abfuhr erhalten. Sie wurde abgewiesen, weil sie zu alt ist und keinen High School-Abschluss besitzt. Um irgendetwas fürs Vaterland zu tun, griff sie zu ihren Aktien. Sie habe fast 500 000 Dollar verloren, sagte Love. Denn: 'Ich habe ausländische Aktien gegen amerikanische Wertpapiere wie Disney und General Motors eingetauscht.' Damit habe sie ein patriotisches Zeichen setzen wollen.«

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt enthält die Meldung zwei zentrale Motive der 9/11-Narration: 9/11 als Existenzbeweis und 9/11 als Sprechlizenz. Love nimmt 9/11 zum Anlass, sich mal wieder zu Wort zu melden. Mit dem »patriotischen Zeichen« setzt sie ein Ego-Zeichen, versichert sich und das Publikum ihrer Existenz bis hin zum Körpereinsatz beim Militär, der ihr dann doch verwehrt bleibt.

Auch bei Kathrin Röggla stiftet 9/11 einen Existenzbeweis und eine Sprechlizenz in einem einzigen Satz. Die Autorin »musste 30 werden und den 11.september in new york erleben, um das gefühl zu haben: ich habe ein eigenes leben.« Um sich der Eigenheit ihres Lebens weiter zu vergewissern, besteht die Autorin auf Kleinschreibung. 9/11 verhilft Röggla abrupt zu Reife & Lebensnachweis und ermutigt sie zum Schreiben. Ihr »Ground Zero« war Deutschlands schnellstes 9/11-Buch. Ground Zero wird zur Stunde Null, zum kollektiven kathartischen Erweckungserlebnis in Echtzeit. Das »Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war«-Mantra erhebt 9/11 in den Rang einer (Feuer-)Taufe, einer Initiation. Wer diese Taufe nicht »erlebt« (Röggla), wer nicht durch die Katharsis geht, der bleibt zurück im heidnischen (materialistischen) Unglauben des alten Jahrtausends.

Als wollten sie die Menschenverluste auf der Stelle ausgleichen, leisten viele Amerikaner aktive Trauerarbeit unter Einsatz ihrer Körper. Im Frühling »verzeichnen Kliniken in vielen Teilen der USA einen Babyboom«, aus Nordtexas melden Ärzte »zwischen 30 und 50 Prozent mehr Schwangere als ein Jahr zuvor. Ähnliche Zahlen gebe es aus New York, Wisconsin und South Carolina.«

Werdende Mütter, Courtney Love und Kathrin Röggla sind Ausnahmen. Nach 9/11 sprechen vor allem Männer über 9/11 und über die Männer, die 9/11 zu 9/11 gemacht haben. Attentäter, Feuerwehrmänner, Polizisten, Fachmänner für Flugtechnik, Statik, Sprengstoff, Logistik, Geheimdienste, Islam, Höhlenforschung, Politiker. Kaum zu sehen ist Hillary Clinton, immerhin Senatorin des Staates New York. Zum Helden von Ground Zero wird der Bürgermeister. Bei den MTV-Awards in New York Ende August wird der Italo-New Yorker Rudolph Giuliani von der Latina-New Yorkerin Jennifer Lopez als Retter der geliebten Stadt gepriesen, zum triumphalen Einmarsch spielen sie einen uralten Song einer linken Punkband über englische Rude Boys: »Rudie can't fail« von The Clash. Ein schöner MTV-Coup der Umwidmung und Auslöschung. Überhaupt löscht und trübt 9/11 Erinnerungen:

9/11 2001 Manhattan/USA trübt die Erinnerung an 9/11 1973 Santiago de Chile, blutiger Putsch mit Hilfe der CIA. Giuliani, vom Time-Magazine zum »Man of The Year« gewählt, trübt die Erinnerung an Carlo Giuliani, keine zwei Monate vor 9/11 in Genua von der Polizei erschossen. Silvio Berlusconi, Italiens Regierungschef und Herr über die Fernsehbilder, würde nach dem 11.September eine geistige Verwandtschaft der Attentäter von New York und Washington mit den Demonstranten von Genua konstruieren.

Ausgelöscht ist die Erinnerung an Rude Rudy, der mit einer populistisch-antiliberalen Kulturpolitik die Stadt polarisiert hatte wie kaum ein Bürgermeister vor ihm, die Erinnerung an Rude Rudy, den Erfinder der inzwischen zum Weltsicherheitspatent erhobenen Doktrin der »Zero Tolerance«. Seit 9/11 macht sich des Vaterlandsverrats verdächtig, wer Kritik an Ordnungskräften übt.

In den Sog der patriotisch-polizeilichen Mobilmachung gerieten sogar die Strokes. »New York City Cops, they ain't too smart« war einer der Hits auf »Is this it«, dem gefeierten Album der Nuevo-Retro-Punkrocker. War, denn »New York City Cops« gehört zu den Kollateralschäden des 9/11. Wie sonst nur bei kaputten Autos gab es eine Rückrufaktion. Für den US-Markt wurde der umstrittene Song vom Album entfernt. Live wird er weiterhin gespielt. »Auf vielfachen Wunsch der Fans«. Die quittieren die Titelzeile mit ausgestrecktem Mittelfinger.

In einem vergleichbaren Akt vorauseilender Pietät - und auf Druck der Plattenfirma, notabene - passten Primal Scream nach 9/11 einen mit viel Getöse als »provokant« & »kontrovers«, weil »globalisierungskritisch« avisierten Song den neuen Verhältnissen an: »Bomb The Pentagon« heißt jetzt »Rise«.

Ärger mit den Cops hatte auch der Boss. Dabei kennt Bruce Springsteen sich aus mit der Kooptierbarkeit von Pop. Sein bekanntester Song kritisiert auf der Textebene den Krieg der USA in Vietnam, entwickelt aber auf der musikalischen Zeichenebene eine derartige vaterländische Wucht, dass sich Ronald Reagan den Refrain von »Born in the USA« für seine Kampagne unter den Nagel riss. Springsteen intervenierte, ein Angebot von Pepsi Cola in Höhe von zwölf Millionen Dollar für »Born in the USA« lehnte er ab.

Auf dem 9/11-Benefiz-Album »God Bless America« singt der selbststilisierte »kritische Patriot« Springsteen »Land of hope and glory«: ein sentimentales Re-Writing von Woody Guthries »This land is your land«, garniert mit Motiven aus Curtis Mayfields Bürgerrechtshymne »People get ready«, und bestätigt einmal mehr den Befund von Stuart Hall: »Springsteen ist sowohl im Weißen Haus als auch auf der Straße. In den sechziger Jahren musste man entweder in dem einen oder auf der anderen sein.«

»Land of hope and glory« ist einer von zwei neuen Songs auf Springsteens vorletztem Album »Live in New York City«. Der andere heißt »American Skin« und hätte im Sommer des Jahres 2000 beinahe seine Shows im Madison Square Garden zum Platzen gebracht, weil das NYPD mit Boykott drohte. Hinter dem unverfänglichen - patriotischen? - Titel »American Skin« verbirgt sich der Untertitel »41 shots«. Mit 41 Schüssen wurde vor drei Jahren bei einer Routinekontrolle der westafrikanische Einwanderer Amadou Diallo durchsiebt. Vier weiße New York City Cops hatten die Brieftasche in seiner Hand für eine Pistole gehalten.

Seit »41 shots« trägt The Boss neue Nicknames. Eine Zeitung nannte ihn »limousine liberal«, mit »fucking dirtbag« gab sich der Vertreter der Fraternal Order Of Police nicht zufrieden und erfand das assoziationsraumgreifende Wort »floating fag«. »Fliegende Zigarette«? »Schwebende Schwuchtel«?

In den ersten Monaten nach 9/11 war es verdächtig still in der Popwelt. Kaum Wortmeldungen, abgesehen von Neil Youngs Heldenepos auf Todd Beamer, der das vierte entführte Flugzeug in Pennsylvania zum Absturz gebracht haben soll. Zum Jahrestag bedient die krisengeschüttelte Kulturindustrie den Markt mit Memorabilia. Springsteens 9/11-Album »The Rising« wird zum Bestseller. »Die Lieder sind alle in diesem Kontext zu sehen. Wenn man in so einer Zeit schreibt, fließen solche Dinge mit ein.«

Springsteens Textbaustein aus der 9/11-Intensitätsproduktion wird uns in dieser und jener Variante noch häufiger begegnen, mal ninarugeesk: »So traumatisch die Ereignisse des 11.September waren - für Coldplay scheinen sie Gutes bewirkt zu haben. Laut Sänger Chris Martin ist die Platte unter dem unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge entstanden: 'Unsere Songs reflektieren neue Sichtweisen', so Martin, 'alles wird gut!'« (Süddeutsche Zeitung)

Mal mirakulös: »Am Tag nach dem 11. September wurden mir einige Songs eingegeben. Einer hieß 'Color me America' ... der nächste war 'Hello God'«. (Dolly Parton)

Mal katastrophisch: »Einbauen« möchte Roland Emmerich den 11. September in die Fortsetzung von »Independence Day«.

Business as usual, man sucht die Nähe zum Fall der Türme, um von der Fallhöhe zu profitieren. Springsteen fraternisiert mit der Feuerwehr, McCartney wird zum »Ehren-Cop« von New York ernannt, Bowie trifft den Polizisten in Menschengestalt: »Die Straßen waren abgeriegelt und voller Polizeibarrikaden. Ein Polizist erkannte mich und sagte: 'Hi, Mr.Bowie, wo ist ihr Pass?'« (Spiegel-Interview zur 9/11-Platte »Heathen«)

9/11 als Password für eine neue Platte, von diesem Angebot machen vor allem Musiker Gebrauch, die vom Burnout gezeichnet sind. Offenbar greift hier eine Krisenstabslogik, die wir aus Sport und Politik kennen. Konfrontiert mit Flutkatastrophen, Flugzeugentführungen, Abstiegskämpfen oder Tarifkonflikten besinnt man sich des Routiniers. Um die prekäre Situation zu überbrücken, werden Alt-Herren-Spieler und elder statesmen reaktiviert.

Aber es gibt auch Musiker wie Cam'ron, die sich dem common sense des 9/11 verweigern:

»I worship the prophet, the great Mohammed, Omar Atta, for his courage behind the wheel of the plane, reminds me when I was dealin' the 'caine«.

Dieser Reim aus seinem neuen Album dürfte Cam'rons rasantem Aufstieg vom Koksdealer zum Rapstar ein jähes Ende bereiten. Einen 9/11-Karriereknick riskierte George Michael, mit seinem politischen Coming Out: »Wir leben in ernsten Zeiten, da ist Schweigen keine Option«, erklärte er und zeigt in seinem neuen Video Tony Blair als Schoßhund von Bush. Zero Rotation auf MTV. Jede Menge Awards von MTV und eine Todesdrohung von al-Qaida dagegen für Eminem und seine Idee, sich als bin Laden zu verkleiden. Auf welchem Wege die Drohung im Hause Eminem eintraf, wurde nicht mitgeteilt.