Kampagne der Süddeutschen Zeitung gegen Marcel Reich-Ranicki

Der neue George-Kreis

Über die Kampagne der Süddeutschen Zeitung gegen Marcel Reich-Ranicki.

Von jeher gibt es in Deutschland keine Intellektuellen, bloß »Geistige«, und von jeher ist die »Verteidigung des Geistes« ihr edelstes und dringlichstes Anliegen. Dass, wer den Geist verteidigt, mitunter diejenigen ausrotten will, die ihm geistlos erscheinen, hat sich inzwischen gezeigt, und so verbindet der Begriff des Geistes das nazistische mit dem so genannten anderen Deutschland von Goethe bis George, von Becher bis Brinkmann, das nur deshalb seine Verbrechen ausschließlich auf dem Papier beging, weil es 1933 nicht an die Macht gekommen ist.

Gewiss, der zivilisierende Einfluss der amerikanischen Unterhaltung hat den kulturellen der George oder Curtius zurückgedrängt, aber die Herrenmoral der Geistigen verlor sich in Deutschland nie, fand Unterschlupf in Magazinen wie dem Merkur und auf den Feuilletonseiten der FAZ oder der Zeit. Dennoch überrascht es, wenn ausgerechnet Roger Willemsen, der Führer durch die schönsten Bordelle der Welt, sie wieder belebt und in der Süddeutschen Zeitung vom 31. August deklamiert: »Es geht nun um Relevanz und ihre Selbstbehauptung gegen eine zeittypische, von kommerziellen Interessen wie von Ressentiment geleitete Geist-Feindlichkeit.«

In einem Satz das ganze Programm, das ganze Pathos eines Geistigen, der spenglerhaft die »Relevanz« und ihre »Selbstbehauptung«, also die Behauptung des Bedeutenden, herausposaunt, das anders vom »Zeittypischen«, und zwar nicht etwa von Bordellfeatures und schmusigen Plaudereien, übertönt werden könnte. Und wie seine Mentoren bleibt auch dieser Geistige uns die Antwort darauf nicht schuldig, wer sich am Geist versündige, denn sich selbst meint er ja nicht.

Der in Kulturfragen den Ton angebende Spiegel, mit dem er ohnehin noch ein Hühnchen zu rupfen hat, ersetze, meint Willemsen, die »Relevanz« durch »Angriffe auf die Existenzberechtigung von 'arte', unterstellt der Kunst wie dem komplexen Denken pawlowsch Elite-Dünkel und lässt den Popjournalisten Marcel Reich-Ranicki eine so hilflos unsachkundige Erledigung von Musils 'Mann ohne Eigenschaften' schreiben, dass man begreift: Hier geht es nicht nur um die Schießübungen eines späten Halbstarken im Pantheon, es geht im größeren Maßstab auch längst nicht mehr um Pop- oder Geheimratsjournalismus, nicht um den engeren oder weiteren Kulturbegriff«, sondern wie gesagt um »Relevanz«, Geist, Abendland.

Dass der Sender arte nach seinem Riefenstahl-Programm noch eine »Existenzberechtigung« besitzt, scheint jedoch ebenso zweifelhaft wie Reich-Ranickis »Schießübung im Pantheon«. Denn Pantheons und Sakrilege gibt es lediglich in der Welt der Geistigen, unter Demokraten gehört ein Artikel wie der Reich-Ranickis (Der Spiegel, 34/02) zur Diskussion. Er argumentiert, mit mehr oder weniger tauglichen Beispielen, »Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil - übrigens ein erklärter Verteidiger des Geistes - sei ein gescheitertes Werk. Kein Kenner Musils hat je etwas anderes behauptet. Außerdem sei dieser Roman misslungen. Ich kenne keinen ernst zu nehmenden Leser, der dem nicht zustimmte. Aber selbst wenn Willemsen, im Wahn befangen, sein schlechter Geschmack verströme sex appeal, anderer Meinung ist, frage ich mich, inwiefern ein Geschmacksurteil »hilflos unsachkundig« sein und der Aufsatz eines Einzelnen die heilige »Relevanz« gefährden kann?

Die Frage zu stellen, wäre müßig, wenn nicht die Süddeutsche seit Monaten eine Kampagne gegen Marcel Reich-Ranicki führte. Bereits eine Woche vor dem Walser-Skandal, am 22. Mai, verglich der Literaturredakteur Thomas Steinfeld ihn mit denjenigen Marktschreiern, die »die große Bühne, auf der die letzten Tage der Menschheit dargeboten werden sollen, mit einer Jahrmarktsbude, vor der ein Hallodri seine Haarwässerchen anbietet«, verwechselten. Die Einlassungen Steinfelds und seiner Spießgesellen zur Debatte selbst (»politischer Rufmord« an Walser usf.) sind hinlänglich bekannt, aber vielleicht nicht, dass er sie, als ob sie ihm besonders gut gefiele, bis heute fortsetzt.

Drei Tage vor Willemsens Verkündigung des Geistes glaubte er darauf hinweisen zu müssen, dass Reich-Ranicki Musil einen »pathologischen Charakter« zugeschrieben habe (stimmt zwar nicht, da steht »wohl teilweise pathologische Mentalität«, gemeint ist sein »manisches Sendungsbewusstsein«, aber Kleinigkeit für einen Fälscher). Und das sei kein Einzelfall: »Vor Wochen schon meinte er sich Martin Walsers entledigen zu können, indem er auf dessen angebliche Trinkgewohnheiten verwies.« Freilich wollte sich nicht Reich-Ranicki Walsers entledigen, sondern umgekehrt. Oder will Steinfeld andeuten, Walser hätte Reich-Ranicki zuvorkommen müssen?

Vorerst hält er nur fest, wer hier der Stalinist bzw. der Nazi ist: »Wir wollen nicht daran erinnern, dass die Pathologisierung der Abweichler zu den beliebtesten Instrumenten sowohl der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Kulturpolitik gehörte.« Das heißt, er möchte nachdrücklich daran erinnern, und außerdem loswerden, es sei »traurig, dass der große Kritiker Marcel Reich-Ranicki keinen Freund mehr zu haben scheint, der ihm diese einfache Wahrheit sagt«. Da vergießt das Krokodil im Steinfeld dicke Tränen.

In diesem hässlichen Spiel fehlte nur noch einer, und er schloss sich am selben Tag dem Vorredner an: »Mit unermüdlichem Einsatz hat Reich-Ranicki durchgesetzt, was nicht durchgesetzt werden muss: die Unterhaltungsliteratur.« - Während Willi Winkler um die Durchsetzung von schwierigen Außenseiter-Ansichten ringt, wie z.B. denen, das Weib habe in der Gemeinde zu schweigen, Bush gleiche bin Laden bis aufs Barthaar oder Elvis Presleys späte Auftritte seien »ekelhaft, reines Las Vegas«.

»Das Schwierige, was den Kritiker schon überforderte, kann er schließlich auch seinen Lesern weder erklären noch zumuten. Deshalb macht er in klassischer Tradition eine Krankenstation auf: die Schlechten ins Lazarett, die Guten in den Kanon.« Winkler will aber nicht etwa die Kur, sondern nur den Arzt abschaffen. Der betreibt, wie schon Martin Walser am selben Ort schrieb, eine »Umwertung der Werte«, nämlich der Blut- und Bodenwerte. Überweist »Doktor Eisenbart« einen Dichter als geheilt in den Kanon, hält sein Kollege Dr. med. Willi Wichtig diesen Patienten für todkrank: »Wen aber Marcel Reich-Ranicki für gesund erklärt, der sollte sich möglichst rasch an seinen Arzt oder Apotheker wenden.«

Reich-Ranicki als Kurpfuscher der Literatur, Willemsen und Winkler als ihre Florence Nightingales, das wäre alles nur ein schlechter Scherz, wenn die Rettung des Relevanten nicht eine Vertilgung des Irrelevanten einschlösse.

Die deutsche Kanaille ruhte nicht, bis erst Hermlin, dann Bubis im Grabe waren. Nun ist Marcel Reich-Ranicki an der Reihe. Wer insinuiert, dieser harmlose Mann bedrohe die Literatur, versteht entweder nichts von ihr oder will auf etwas anderes hinaus. Solange statt einer Kritik an seinen Prinzipien und Produkten Hetze gegen seine Person geboten wird, so lange müssen wir befürchten, dass die Verteidigung des Geistes die Verfolgung des Juden bedeutet.