Die Filme von Ulrich Seidl

Kein Hochzeitsfotograf

Die Normalität sieht in den Filmen des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl noch verstörender aus, als sie ohnehin ist.

Als »Versuchsstation für den Weltuntergang« hat Karl Kraus Österreich bezeichnet und auch sonst bekanntlich wenig Gutes an diesem Land gelassen. Thomas Bernhard verfügte in seinem letzten Willen, keiner seiner Texte sei nach seinem Tode in Österreich zu drucken oder auch nur zu zitieren. »Ausdrücklich betone ich, dass ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will«, ließ der »Nestbeschmutzer« die Nachwelt wissen. Ähnlich polarisiert haben dürfte in Österreich lediglich Elfriede Jelinek, zu deren Auszeich­nung mit dem Lite­ratur­nobel­preis 2004 die Kronenzeitung dichtete: »Stets sah Elfriede Jelinek in Österreich den letzten Dreck. Doch jetzt ist dieser stolz auf sie: Verstört sie das nicht irgendwie?«
Die gleichen Schreiber und Leser werden sich bereits 2001 über den Großen Preis der Jury in Cannes für Ulrich Seidls »Hundstage« geärgert haben. Nicht nur, dass da ein »Nestbeschmutzer« für seine Kritik einen solch wichtigen Filmpreis bekam, auch dass Seidl nach diesem Erfolg nun staatlicherseits mit Glückwünschen und Anerkennungen überschüttet wurde oder werden musste, war ein Ärgernis. Denn schließlich handelt es sich um einen Film, in dem ein Protagonist auf den Knien und mit einer brennende Kerze im Hintern die österreichische Bundeshymne singt. Anfeindungen sah sich Seidl bereits seit seinem ersten Film­skan­dal ausgesetzt, »Good News – Von Kolporteuren, toten Hunden und anderen Wienern« (1990), einem Film über die Lebens- und Arbeitsbedingungen migrantischer Zeitungsverkäufer in Wien, denen die Lebens- und Lesebedingungen der österreichischen Zeitungskäufer gegengeschnitten sind.
»Ich bin kein Hochzeitsfotograf«, verteidigt Ulrich Seidl seine Filme. Und in der Tat sind die Filme des 1952 in Wien geborenen Regisseurs das Gegenteil einer freudigen Familienzusammenkunft. Wohl nirgendwo im deutschsprachigen Kino wird konsequenter Einsamkeit abgebildet. »Hundstage« hat trotzdem weltweit immerhin etwa 300 000 Kinobesucher erreicht, weshalb die Fördergelder für zwei weitere Filme etwas leichter zu beschaffen waren. Beide – »Jesus, du weißt« (2003) und »Import Export« (2007) – kreisen wie fast alle Filme Seidls zentral um Fragen der Moral, Religion und Pornographie.
Die Konfrontation mit Moral und Religion kennt Seidl aus erster Hand, er entstammt einem streng katholischen Elternhaus, verbrachte einige Jahre in einem Jesuiteninternat, bevor er nach Wien floh und mit den Eltern brach. Die konnten ihrem Sohn in seinem Bestreben, das österreichische Nationalgefühl und den Katholizismus immer aufs Neue zu sezieren, ohnehin nicht mehr folgen. Einen Film hat er ihnen gewidmet: »Jesus, du weißt«, eine Fernsehproduktion über die Wirkungen und Prägungen katholischer Erziehung, ein Film, der in erster Linie unterschiedlichste Menschen beim Beten zeigt. Gesehen haben die Eltern ihn nie. »Sie hatten wohl Angst: Angst davor, etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollten. Und auch Angst davor, sich genieren zu müssen für den Sohn, der vom rechten Weg abgekommen ist.«
Aber der eigentliche Skandal ist wohl Seidls Verknüpfung der drei Themenkomplexe Moral, Religion und Pornographie. Wie Jelineks Romane überschreiten Seidls Filme permanent Grenzen und treten dem Zuschauer zu nahe. Sie stellen gesellschaftliche Unterdrückungs- und Gewaltstrukturen dar, zeigen deren Wirkungsweise auf religiöser, sozialer wie auch sexueller Ebene. Die katholisch-restriktive Gegenwart Österreichs entlarvt sich selbst. Werner Herzog, ein Freund und Bewunderer Seidls, schrieb über »Good News«: »Mit solcher Konsequenz, mit solchem Stilwillen hat noch selten jemand im Film die furchtbare Regelmäßigkeit des Alltags, den Wahn­sinn der Normalität gezeigt.«
Den Wahnsinn der Normalität und die furchtbare Regelmäßigkeit des Alltags findet man bei Seidl in jeder Einstellung. Seine ästhetische Strategie besteht darin, das Wirkliche durch frontale Kamera-Einstellungen zu überhöhen. Die Darsteller, Laienschauspieler gleichberechtigt mit professionellen, blicken frontal in die Kamera, sitzen auf Sofas vor dunklen Tapeten und wirken dort seltsam verloren. Größer könnte die Distanz zwischen dem Zuschauer und den Porträtierten kaum sein, was eine Identifikation mit ihnen schwierig macht, und das Betrachten der Filme noch schwieriger. In dem einzigen Buch, das bislang über Seidls Schaffen erschienen ist, beschreibt Stefan Grissemann, wie Seidl es mit dieser Ästhetik schafft, in einer Einstellung ganze Sozialgewaltsysteme zu registrieren und große Themen wie Sexismus, Rassismus oder autoritäre Erziehung ohne Wertungen abzubilden. Sie erklären sich in den Bildarrangements von selbst.
Der Wahnsinn der Normalität ist auch in der Sexualität anzutreffen: Bei Seidl gibt es keinen glücklichen Sex, immer ist Sexualität gekoppelt an Einsamkeit oder die Darstellung von psychischer Gewalt, die sich in grotesken Demütigungs­ritualen entlädt. In »Import Export« bildet die Sexualität einen Erzählstrang – neben migrantischen Arbeitsverhältnissen und einer Gegen­überstellung von Angehörigen der Unterschicht in Österreich und der Ukraine –, anhand dessen die Normalität von Unterdrückungsmechanismen und Demütigungen nachvollzogen wird. Dabei wird deutlich, wie stark diese drei Themen – Sex, Migration, Klassenzugehörigkeit – einander bedingen. Sexualität wird bei Seidl zu einem gewaltsamen Kampf um Dominanz, Anerkennung und Unterdrückung.
Die eher groteske Seite von Sexualität zeigte er in »Tierische Liebe« (1995), einem Film, der sich mit den intimen Verhältnissen von Menschen zu ihren Haustieren beschäftigt, vom emo­tionalen Partnerersatz bis zu sexuellen Annäherungen, was in Österreich natürlich wiederum zu einem Skandal wurde. Obwohl es nur die Abbildung einer Normalität ist, die nicht oft Einzug in den Film hält. »Die kleinen Wohnungen, in denen alle leben, die schlechten Bettbänke, die Unterhosen, die Hunde: Das alles ist normal. Was ich zeige, ist einfach Normalität«, so Seidl in einem Interview. Genauso eine Normalität ist die Selbstzerstörung durch Anorexie und Drogen in einem Leben zwischen Casting und Foto-Shooting, wie Seidl es in »Models« (1998) abbildet.
Durch seine ästhetischen Strategien legt der Regisseur jedoch nicht nur die autoritären Mechanismen der österreichischen Gesellschaft bloß, er stellt auch permanent die Frage nach dem eigenen Medium. Seine Filme an der Schnitt­stelle zwischen Dokumentarfilm und fiktionalem Kino – lediglich »Hundstage« und »Import Export« sind als Spielfilme erschienen – sind als analytisches, postdokumentarisches Kino zu verstehen. Er kritisiert den Anspruch von Dokumentarfilmern, in ihrem Medium so etwas wie Authentizität bieten zu können, und unterstreicht in seinen Filmen daher gerade das Künst­liche jeder Einstellung. Das, was er in ihnen zeigt, wird dadurch nicht entwertet, vielmehr wird der Gesellschaftsanalyse zugleich eine Selbstbefragung und -kritik beigefügt, wenn das Filmische überhöht und so kenntlich gemacht wird: »Natürlich will ich mit meinen Filmen nicht nur unterhalten, sondern auch etwas bewegen: die Menschen im Kino berühren oder auch verstören. Ich will im Kino nicht Illusionen geliefert kriegen, sondern auf mich selbst zurückgeworfen werden.« Seidls Filme leisten dies, sind selbst kleine Versuchsstationen für den alltäglichen Weltuntergang. Vor allem, und dies ist wohl die Ursache für viele der Anfeindungen gegen ihn, weigern sie sich, Antworten auf die gestellten Fragen zu liefern.

»Tierische Liebe«/»Import Export«: DVD bei Alamode-Film

Stefan Grissemann: Sündenfall. Die Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl. Sonderzahl, Wien 2007, 250 Seiten, 19,90 Euro