Der Feind steht links

Trotz der heftigen Proteste der vergangenen Woche will der ungarische Premierminister Gyurcsany im Amt bleiben. Viele in Ungarn reden bereits von »konservativer Revolution«. von thorsten herdickerhoff, prag

Die Wut sitzt tief. Zehntausende Ungarn gehen seit einer Woche jeden Tag auf die Straße und fordern den Rücktritt des sozialistischen Premierministers Ferenc Gyurcsany. Einige Hundert lieferten sich mehrere Nächte Straßenschlachten mit der Polizei. Warum brechen die Proteste gerade jetzt aus, und weshalb in dieser Heftigkeit? Auslöser ist ohne Zweifel die am vorletzten Sonntag veröffentlichte Rede des Premiers, die er im Mai vor Parteikollegen gehalten hatte. Darin gibt er unumwunden zu, die Wähler systematisch über die miserable Haushaltslage belogen zu haben. »Es war vollkommen klar, dass das, was wir gesagt haben, nicht wahr ist«, so Gyurcsany über den Wahlkampf im April, an dessen Ende seine linksliberale Regierung bestätigt wurde.

Der Staatshaushalt ist dermaßen unterfinanziert, dass die versprochenen Wahlgeschenke nicht eingelöst werden können. Gyurcsanys Regierungskoalition hat bereits ein Sparprogramm aufgelegt, und die geplanten Reformen wird jeder Bürger zu spüren bekommen. Vorgesehen sind unter anderem Studien- und Arztgebühren, kräftige Steuererhöhungen, neue Steuern auf Kapitalerträge und höhere Energiepreise. Die Nettoneuverschuldung könnte dieses Jahr auf mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Die für 2010 geplante Einführung des Euro ist jedenfalls auf unbestimmte Zeit verschoben, dafür muss das Haushaltsdefizit unter drei Prozent liegen.

Während sich die Regierung bemüht, die Sparmaß­nahmen als notwendig erscheinen zu lassen, um den Staatshaushalt zu sanieren, sehen die Bürger sie als Griff in ihre Tasche. »Ich bin wegen der drastischen Sparmaßnahmen hier«, begründete eine Studentin vor dem Parlament ihren Protest. Die Reformen sind bei vielen unbeliebt, sogar in Gyurcsanys Sozialistischer Partei. Doch die Demonstranten kommen hauptsächlich aus dem Umfeld der Opposition, ihre politischen Ansichten und Forderungen reichen von der Mitte bis zum extremen rechten Rand. Sie eint ihre Abneigung gegen die Linke und der Frust, die Parlamentswahl im April knapp verloren zu haben.

Abneigung und Frust nutzt die größte Oppositionspartei Fidesz derzeit, um Stimmung gegen die Regierung zu machen. Sie behauptet bereits seit Monaten, dass die Regierung Gyurcsanys illegitim sei, weil sie die Sparmaßnahmen verschwiegen habe und durch Lügen an die Macht gekommen sei. Sie beschwört dabei das Bild einer »konservativen Revolution«, etwas schräg angelehnt an den Volksaufstand 1956 unter Leitung des Reformkommunisten Imre Nagy, und redet von einem »Recht auf Widerstand«. Damit spricht sie zweifellos den rechten Rand der Unzufriedenen an. Viele der gewalttätigen Demonstranten kommen aus dem rechtsradikalen Milieu, darunter sind Nationalisten, Fußball-Hooligans und Neonazis. Einige sind der Polizei bekannt wegen früherer Gewaltdelikte. Einer aktuellen Umfrage zufolge hält die Mehrheit der Ungarn die Stimmungsmacher von Fidesz für mitschuldig an den Gewaltausbrüchen.

Die ersten Ausschreitungen in der vergangenen Woche waren die heftigsten. In der Nacht zu Dienstag stürmten mehrere Hundert Menschen das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Budapest, setzten Autos in Brand und verletzten über 100 Polizisten. Das Programm des Senders wurde für knapp zwei Stunden unterbrochen, bis die Polizei die Randalierer aus dem Gebäude vertrieben hatte. In der folgenden Nacht kam es erneut zu Straßenschlachten mit der Polizei, die aber bereits besser organisiert war. Größere Schäden wurden vermieden und zahlreiche Krawallmacher festgenommen. In der Nacht zu Donnerstag kam es zu kleineren Ausschreitungen, seitdem sind die Nächte ruhig.

Die große Mehrheit der Demonstrierenden ist ohnehin friedlich. Sie protestieren jeden Tag vor dem Parlament, wo sich abends regelmäßig etwa 10 000 Regierungsgegner treffen. Ihr gemeinsamer Feind steht links, regieren sollen die Konservativen, darin sind sich die Protestierenden einig.

Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, und der Riss geht genau durch die Mitte. Die Konservativen halten die Linken für »Kommunisten«, die mit ihrer Vergangenheit nicht gebrochen haben. Die Linken hingegen fürchten die Konservativen, weil sie keine Berührungsängste mit rechtsradikalen Strömungen zeigen.

In der vergangenen Woche hielt die Fidesz lange an ihrem Plan fest, am Samstag zu einer politischen Großkundgebung aufzurufen, zu der mehrere Hun­dert­tausend Menschen erwartet wurden. Die Demonstration wurde jedoch abgesagt, nachdem der Geheimdienst mit Hinweisen auf mögliche Bombenanschläge davor gewarnt hatte. Trotz­dem versammelten sich 15 .000 Menschen am Samstag vor dem Parlament, um den Rücktritt von Gyurcsany zu fordern.

Die unsichere Lage erzeugt zwischen den zerstrittenen Parteien – sowohl in der Opposition als auch in der Regierungskoalition – eine Einigkeit, die in Ungarn ungewöhnlich ist. Niemand weiß, was noch passieren kann bis zu den Kommunalwahlen am 1. Oktober. Die Kommunalwahlen sind der letzte größere Punkt, der die Heftigkeit der aktuellen Proteste erklären mag. Wahlkampf in Ungarn wird immer sehr wörtlich genommen, und dadurch ist die Stimmung im Land meist sehr gereizt. Zumal Viktor Orbán, ehemaliger Ministerpräsident und Parteichef der Fidesz, diese Kommunalwahlen zu einem Volksentscheid über die Regierung erklärt hat. Schätzungen zufolge ist der Zuspruch für die Sozialisten seit Beginn der Woche rapide gesunken. Vielleicht war die Veröffentlichung der Rede Gyurcsanys ein wohldosierter Stoß im Wahlkampf. Bisher weiß man nicht, wer dem Radiosender die Aufnahme zugespielt hat, ganze vier Monate nachdem sie entstanden ist.

Wie sehr ein schlechtes Ergebnis der Sozialisten bei den Kommunalwahlen ihre Position schwächt, ist ungewiss. Gyurcsany will ausdrücklich im Amt bleiben, was ihm gelingen kann. Seine Koalition steht hinter ihm, die Demonstrationen dauern zwar an, die Krawalle haben jedoch abgenommen. Außerdem wird sein Sparprogramm von entscheidenden Stellen gelobt.

In Wirtschaftskreisen gelten diese Reformen als wichtige Chance für Ungarn. Es gehe nun darum, »Geschenke zurückzugeben«, welche die Regierungen – rechte wie linke – in den letzten Jahren ungerechtfertigterweise verteilt hätten, meint Sandor Richter, Wirtschaftsexperte für Ungarn am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. »Das Opfer wird sich lohnen«, meinte Richter am Donnerstag vergangener Woche vor Journalisten in Wien und verwies auf das Sparprogramm von 1995. Danach hätten die Ungarn »vier goldene Jahre erlebt«. Für einen ähnlich positiven Effekt müsse Gyurcsany seine Reformen umsetzten können und Ungarn zwei Jahre lang den Gürtel enger schnallen, so Richter.

Doch das ist schwierig bei einem durchschnitt­lichen Monatslohn von 625 Euro. Sollte der Haushalt allerdings nicht saniert werden, befürchtet Richter einen Staatsbankrott, und der käme Ungarn sicherlich noch teurer zu stehen. Vielleicht muss Gyurcsany gehen, weil er gelogen hat. Vielleicht darf er aber auch bleiben, weil er die Wahrheit gesagt hat und in ihrem Sinne handeln will.