Das große Schweigen

Von Alex Veit

Die britische Linke ließ sich durch die Bombenanschläge nicht von ihren G8-Protesten abbringen.
Demonstrationen gegen den Terrorismus blieben ebenso aus wie Kundgebungen gegen den Irak-Krieg. von alex veit

Das hatte Tony Blair sich ganz anders vorgestellt. Durch die Agenda des G 8-Gipfels mit den Schwerpunkten Armut und Umweltverschmutzung wollte er neue außenpolitische Akzente setzen, die den Irak-Krieg in den Hintergrund rücken und eine neue Identifikation der Labour-Partei sowie der linken und liberalen Öffentlichkeit mit seiner Politik ermöglichen sollten. Von den Tätern beabsichtigt oder nicht: Durch die Anschläge in London sind Afrika und das Weltklima sehr schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, und die »harte« Außenpolitik bestimmt wieder einmal die Debatten. Ob durch die Bomben vom Donnerstag vergangener Woche die Stationierung britischer Truppen im Irak nun wieder stärker in die Kritik geraten wird, oder ob gesellschaftliche und nationale Selbstinszenierungen von Zusammengehörigkeit und Einigkeit im Vordergrund stehen werden, war in den ersten Tagen nach dem Anschlag unklar. Demonstrationen gegen die Regierung, wie 2004 nach den Anschlägen in Madrid, blieben zunächst genauso aus wie große öffentliche Versammlungen, um der Opfer zu gedenken. Diese auffällige Abwesenheit von gemeinschaftlichen Ritualen reflektierten auch die Debatten in der britischen Linken.

Gegen den G 8-Gipfel in Schottland protestierende Globalisierungskritiker sahen sich, genauso wie die Politiker, gegen die sie demonstriert hatten, vor eine neue Situation gestellt. Am Tag der Anschläge wurden in einem Protestcamp in Sterling zunächst alle Aktionen abgesagt. Stattdessen wurde eine Versammlung einberufen, in der eine Erklärung zu den Anschlägen formuliert werden sollte, die aber nach langen Debatten ergebnislos blieb. »Man erntet, was man sät, war die Meinung von einigen«, berichtet Fabian Frenzel vom Institut für Nomadologie, der in den Tagen zuvor an den Protesten teilgenommen hatte. »Andere wollten dies nicht unterstützen. Natürlich waren alle entsetzt über die Anschläge, aber bei so vielen Menschen ist eine Einigung auf einen Wortlaut sehr schwierig.« Statt zu diskutieren wurde schließlich um Polizisten, die das Camp belagerten, eine Menschenkette gebildet und eine Schweigeminute für die Opfer in London abgehalten.

Selbst Organisationsbündnisse wie »G 8 alternatives«, dem sowohl Gruppen wie die »Stop the War Coalition« als auch »Friends of the Earth« angehören, äußerten sich nicht zu den Anschlägen in London. Für Mike Arnott, einen Sprecher des Bündnisses, zeigt sich zwar die offenbar beabsichtigte Verbindung zwischen dem G 8-Gipfel und den Anschlägen. Als den Versuch einer Einflussnahme internationaler Jihadisten auf die britische Friedensbewegung, so wie es in Italien mit den Geiselnahmen italienischer Staatsbürger im Irak recht erfolgreich vorexerziert wurde, versteht er die Terrorangriffe jedoch nicht: »Die Angriffe verdrängten unsere Themen zwar aus den Schlagzeilen, aber ansonsten sehe ich da keinen Zusammenhang.«

Am nächsten Tag kehrten einige Aktivistinnen und Aktivisten, wiederum parallel zu den Staatsmännern, zum business as usual zurück: In Glasgow fand eine Demonstration gegen die Ursachen der Klimaveränderung wie geplant statt, auch wenn auf die Beschallung mit Partymusik verzichtet wurde. Damit endeten die Proteste planmäßig. Die »Stop the War Coalition« rief kurzfristig zu Friedens-Mahnwachen in verschiedenen Städten auf, die jedoch keine größere Resonanz fanden.

In den einschlägigen Internetforen fanden sich zu diesem Zeitpunkt bereits die üblichen Verschwörungstheoretiker ein, die die Urheberschaft der Anschläge in westlichen Staatsapparaten vermuteten. Das britische Internet-Forum »Indymedia« platzierte, ohne dies zu kommentieren, einen Link über eine längst dementierte angebliche Vorwarnung israelischer Behörden vor den Explosionen auf ihrer Startseite an prominenter Stelle. Die Medienaktivisten verfassten eine Stellungnahme, in der die Anschläge verurteilt wurden und zugleich vor ihrem »Missbrauch« durch »reaktionäre Medien« und »das politische Establishment« gewarnt wurde.

Dies befürchteten auch ihre Kollegen vom Monatsmagazin Red Pepper: »Viele Medien werden nun die Botschaft herausblasen, dass wir alle von gesichtslosen Barbaren bedroht werden, die gegen unseren ›Lebensstil‹ sind«, hieß es in einem Kommentar. »Es ist an der Anti-Kriegsbewegung, eine andere Analyse zu artikulieren, daran zu erinnern, dass diese Attacke eine direkte Konsequenz unserer Rolle bei den Brutalitäten in Afghanistan, Irak und Palästina ist.«

Für die organisierten Kriegsgegner von der »Stop the War Coalition« und die Partei Respect waren die Beweggründe der Täter ebenso vor allem im Irak-Krieg zu suchen, und sie verlangten deshalb den Rückzug britischer Truppen aus dem Land. Der Abgeordnete George Galloway, der Respect im Unterhaus vertritt, erklärte: »Wir haben argumentiert wie die Sicherheitskräfte in diesem Land, dass die Angriffe auf Afghanistan und den Irak die Gefahr von Terrorattacken in Großbritannien erhöhen würden. Tragischerweise zahlen die Londoner nun den Preis dafür, dass die Regierung solche Warnungen ignoriert hat.«

Doch nicht die gesamte britische Linke wollte diesen einfachen Erklärungen zu den Motiven der Täter folgen. Das antifaschistische Magazin Searchlight bezog sich in einer Analyse auf ein Bekennerschreiben einer bislang unbekannten islamistischen Gruppe im Internet: »Sie zitieren die Kriege in Afghanistan und Irak als ihre wahren Motive, aber sie sind Lügner. Sie haben die Entscheidung getroffen, einfache Leute zu bombardieren, in der Stadt, die die weltweit größten Antikriegs-Demonstrationen abgehalten hat, wegen ihres eigenen perversen Hasses auf Demokratie und die Idee, dass Menschen aller Kulturen und Glaubensrichtungen harmonisch zusammenleben können.« Am Ende des Artikels forderten die Verfasser eine Demonstration, um den »Londonern Gelegenheit zu geben, ihre Abscheu gegen Terrorismus und Solidarität mit ihren Mitbürgern auszudrücken«.

Doch weder Londons linker Bürgermeister Ken Livingston noch andere linke Organisationen riefen bisher zu einer großen öffentlichen Versammlung auf. Offizielle Gedenkveranstaltungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren, die in Großbritannien am Sonntag begangen wurden, sowie Gebete in Kirchen, Synagogen und Moscheen waren die einzigen größeren öffentlichen Veranstaltungen nach den Bombenanschlägen. An diesem Donnerstag sollen zwei Schweigeminuten für die Opfer abgehalten werden.