Homegrown Jihad

Die Londoner Islamistenszene ist eine der vitalsten außerhalb der arabischen Länder. Seit dem Irak-Krieg gilt das angebliche »Sicherheitsabkommen« mit dem britischen Staat als gekündigt. von udo wolter

London ist nicht nur der Wohnort von rund 700 000 »British Muslims«, sondern gilt auch als Europas größter Tummelplatz für radikale Islamisten jeglicher Couleur mit teilweise direkten Kontakten zu al-Qaida. Entsprechend intensiv wird nach einer möglichen Verwicklung britischer Muslime in die Anschläge gefahndet. Sollte sich der Verdacht bestätigen, hieße dies, dass in London lebende und vielleicht auch dort geborene Jihadisten ohne Rücksicht auch gegen ihre eigene Community gebombt hätten. Denn zwei der Anschlagsziele lagen in Zentren des muslimischen oder arabischen Lebens der Stadt.

Im Gegensatz zu einigen Linken wie Tariq Ali und George Galloway beeilten sich die der Muslimbrüderschaft nahe stehende Muslim Association of Britain sowie die anderen großen islamischen Verbände, die Anschläge bedingungslos zu verurteilen und sie nicht als Preis für den Irak-Krieg zu werten. »Diese Terroristen und bösartigen Leute wollen uns als Nation demoralisieren und spalten«, erklärte Sir Iqbal Sacranie, der kürzlich geadelte Generalsekretär des größten Dachverbands Muslim Council of Britain. Auch das als radikaler geltende Muslim Public Affairs Comitee UK hat zunächst ohne jede Schuldzuweisung an die Regierung den »terroristischen Akt gegen die Menschheit« verurteilt.

Eine große Rolle spielt dabei die Furcht, dass es nun zu einem »Backlash« gegen die muslimische Bevölkerung in England kommt und sie kollektiv für den Terrorismus verantwortlich gemacht wird. Tatsächlich gab es unmittelbar nach den Anschlägen eine Flut von Drohanrufen und Hassschreiben an muslimische Einrichtungen, die den Server des Muslim Council zum Absturz brachten. Auch tätliche Übergriffe und Brandanschläge auf Moscheen wurden gemeldet.

Doch mittlerweile tauchen auch islamische Stimmen auf, die die britische Außenpolitik für die Anschläge mitverantwortlich machen. Weniger in offiziellen Stellungnahmen der Verbände, aber auf deren Websites und in den Medien. »Blair hat uns in die Schusslinie gebracht«, schrieb etwa der Journalist Faisal Bodi, ein früherer Mitarbeiter von al-Jazeera und heute bei der BBC tätig, im Guardian. Auf der Website des Muslim Public Affairs Comitees erschien ein Beitrag, der dem Vorsitzenden der britischen Zionist Federation, Eric Moonman, vorwarf, »die Tragödie zu instrumentalisieren, um Israel zu helfen«.

Moonman hat die Londoner Anschläge mit Selbstmordattentaten in Israel verglichen, was manche Islamisten offensichtlich für nicht statthaft halten. Anders als Anschlagsopfer in Großbritannien gelten ihnen von Selbstmordbombern zerfetzte Passanten in Israel nicht als »unschuldige Zivilisten«. Dass islamistische Prediger in aller Welt und sogar Suizidbombergruppen wie Hamas oder Hizbollah die Londoner Anschläge verurteilt haben, ist so betrachtet nicht nur zynisch, sondern auch ehrlich.

Das gilt ebenso für den bekannten und der Muslim Association eng verbundenen Sheik Yussuf al-Qaradawi, der die »schwarzen Aktionen« in London verurteilt hat, weil im Islam die Tötung von Zivilisten verboten sei. Hingegen hat er nicht nur Selbstmordattentate in Israel mehrfach gerechtfertigt, sondern auch das Töten von im Irak für die »Besatzer« arbeitenden amerikanischen und britischen Zivilpersonen.

Neben den größeren muslimischen Verbänden gibt es in »Londonistan«, wie die britische Hauptstadt wegen ihrer Bedeutung für die islamistische Internationale gelegentlich genannt wird, zahlreiche kleine und kleinste jihadistische Organisationen und Gruppen. Offen begrüßt hat die Anschläge keine von ihnen.

Auf der Website der in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir findet sich eine »Botschaft an die muslimische Gemeinde«, in der eine Verurteilung der Anschläge wortreich umgangen wird. Stattdessen wird eine islamische Täterschaft bezweifelt und dazu aufgerufen, gegen »die Ermordung und Vergewaltigung unserer Ummah durch westliche Regierungen aufzutreten«.

Aus dem Umfeld von Gruppen wie Hizb ut-Tahrir, die jedes militante Vorgehen in Europa ablehnt, oder al-Muhadschiroun rekrutieren sich militante, oft kurzlebige Kleingruppen. Beispielsweise die »Savior Sect«, deren Klerikalhooligans während des Wahlkampfs Veranstaltungen des Muslim Council und des Abgeordneten George Galloway stürmten und muslimische Wähler bedrohten, weil es »unislamisch« sei, sich an Wahlen zu beteiligen.

Einpeitscher der jungen britischen Jihadisten sind Leute wie der berühmt-berüchtigte »Hassprediger« Abu Hamza al-Masri, der in Afghanistan beide Hände verlor und jahrelang in der Londoner Finsbury-Park-Moschee zum Kampf gegen den ungläubigen Westen und die Juden rief. Derzeit steht er vor Gericht, weil er Kontakte zu al-Qaida unterhalten und die Verschickung junger Muslime in afghanische Camps organisiert haben soll. Eine ähnlich bekannte Figur ist Omar Bakri Mohammed, Prediger der Gruppe al-Muhadschiroun, der über Downing Street No. 10 die grüne Fahne des Propheten sehen und den Westen »entjuden« will.

Viele der jungen britischen Islamisten wurden im Land geboren, sind britische Staatsbürger, stammen aus integrierten und einigermaßen gut situierten Mittelschichtsfamilien und haben nicht selten eine Universitätsausbildung begonnen, bevor sie sich dem Kampf für den »reinen Islam« verschrieben. Dies verdeutlicht etwa eine Reportage über junge Anhänger von al-Muhadschiroun, die im vergangenen Jahr im Evening Standard erschien.

Auf Attentate in England angesprochen, sagte einer der Interviewten: »Wenn es hier einen Bombenanschlag gäbe, wäre ich nicht dagegen, selbst wenn meine eigenen Kinder dabei umkämen.« Allerdings würde er sich nicht selbst an Terroraktionen in England beteiligen, weil dies dem Islam widerspreche. Da er dort lebe, gelte ein »Sicherheitsabkommen mit dem Vereinigten Königreich, solange Muslime hier in Ruhe leben können«.

Von diesem angeblichen »informellen Stillhalteabkommen« war bei radikalen Islamisten immer wieder die Rede. Seit der britischen Beteiligung am Krieg im Irak hat sich dies allerdings geändert. Im Januar dieses Jahres hat Omar Bakri Mohammed erklärt, das Sicherheitsabkommen sei von der Regierung gekündigt worden, weshalb er britische Muslime dazu aufforderte, sich dem »globalen islamischen Lager gegen das globale Kreuzfahrerlager anzuschließen«.

Ob hinter den Londoner Terroranschlägen tatsächlich britische Muslime stecken, ist unklar. Unabhängig davon aber ist das geistige Klima, das sich unter einem Teil der jungen britischen Muslime ausgebreitet hat, besorgniserregend.