Autonomie im Maisfeld

raucherecke

Während die europäische Linke sich in der Form einer »prekären Multitude« neu zu sammeln versucht, wurde Anfang Mai im mexikanischen Bergdorf Soledad im Bundesstaat Oaxaca die Auferstehung eines Klassikers gefeiert: Die Autonomie ist wieder da! In einer Gesellschaft voller »Netzwerke« noch so etwas wie eine temporäre autonome Zone zu schaffen, wird hierzulande meist als fixe Idee abgetan. Doch die mexikanische Jugend oder zumindest die 600 Teilnehmer des »Ersten autonomen Jugendcamps Mexikos« haben gezeigt, dass zumindest in der Sierra Madre noch so einiges zu besetzen ist. Dass man die Bewohner der Gemeinde um Erlaubnis gefragt hatte, bevor man das große Maisfeld stürmte, hatte man spätestens beim Fahnenappell schon wieder vergessen: Einmal Regenbogen, einmal Palästina, einmal Mexiko und einmal das Schwarz der örtlichen »Magonista« flatterten über dem Zeltlager.

Unter diesen Zeichen kamen sich die aus ganz Mexiko und anderen Ecken des globalen Dorfes angereisten Freunde der Autonomie näher. Punks, Tierschützer, Anarchisten, Sprayer, Menschenrechtler, Radiomacher, Hip-Hopper, Indigena-Organisationen und einige mehr ergründeten bei den zahlreichen Workshops und Diskussionsrunden das Wesen der Selbstbestimmung, während sich die Dorfjugend dank einer mitgebrachten Antenne in der improvisierten Radiostation als DJs erproben konnte. Ein Situationist aus Mexiko-Stadt war sichtlich gerührt: Noch vor zehn Jahren hätte die Hegemonie des Marxismus-Leninismus dies alles unmöglich gemacht. Aber das war einmal. Die wenigen anwesenden Genossen sahen sich bei dem morgendlichen Bad im Fluss eher den unbequemen Fragen der Ökoesoteriker ausgesetzt: Wie hältst du’s mit der Kernseife? Gut für die Umwelt und für das Karma.

Die älteren Bewohner der Gemeinde fanden die Autonomie schon okay. Aber sich ohne den Staat selbst zu verwalten, ist in den Bergen von Oaxaca eher der gewöhnliche Alltag denn eine aufregende Utopie. Vom Staat ist hier kaum mehr zu hören als ein paar gute Worte, die ein, zweimal im Jahr zusammen mit einem Sack Zement abgeladen werden. Ungleich schwieriger wäre ein Alltag ohne Paramilitärs.

Das sahen am Ende auch die autonomen Besucher so, packten die Zelte zusammen und fuhren nach Oaxaca-Stadt, um gegen die Übergriffe auf die Mitglieder ländlicher Indigena-Organisationen zu demonstrieren. Und für zwei Stunden gehörte die Innenstadt den grölenden Protestanten, die nach vier Tagen im Mais doch noch ihre temporäre autonome Zone gefunden hatten.

nils brock