Alte Brieffreunde

Ned Kelly und seine Gang | Julian Weber

Der Schriftsteller Peter Carey beschäftigt sich auf unkonventionelle Weise mit dem Andenken an den australischen Banditen und Volkshelden Ned Kelly und erfindet mit Hilfe eines Romans einen Menschen, der Züge literarischer Räuber, Bürger und Edelmänner trägt.

Geschichte wird normalerweise von Siegern diktiert. Lässt man einen Verlierer zu Wort kommen, muss das schon besondere Gründe haben. Man möchte damit andere Menschen abschrecken, hofft sie abzulenken vom wahren Ausmaß der Tragödie oder aber will die eigene Gemeinschaft durch den Triumph über den Verlierer beschwören. Alle diese Gründe könnten im Fall von Ned Kelly geltend gemacht werden. Kelly (1855–1880) ist arm und wächst inmitten einer zerrütteten und gewalttätigen Gesellschaft auf. Als Nachkomme von einem der rund 200 000 Menschen, die zwischen 1780 und 1870 als Strafgefangene von England nach Australien deportiert wurden, ist er ein geborener Verlierer. Soziale Chancen werden ihm erst gar nicht eingeräumt.

Schlauer Analphabet

Ned Kelly wird zum Bankräuber und Viehdieb. Von den anderen Bankräubern, Viehdieben und Verlierern unterscheidet Ned Kelly aber, dass er sein Leben aufgeschrieben hat. Obwohl er nur 26 Jahre alt werden sollte, schreibt er in dieser kurzen Lebenszeit Geschichte(n). Zwischen seinen Aufzeichnungen, die er unter einer stählernen Rüstung bei sich trägt, finden sich herausgerissene Seiten aus Shakespeares Drama »Heinrich V.«. Der »schlaue Analphabet«, wie eine Zeitung Kelly zu Lebzeiten nannte, begründet schriftlich, wieso er seine Taten begeht, wer die wahre Schuld an der Armut besitzt und warum er seine Beute unter den Armen im australischen Outback verteilt. Ned Kelly ist aber weder Gutmensch noch edler Wilder. Er hat mit seiner Bande eine Blutspur hinterlassen. Es ist sein Wille zum Widerstand, der ihm Symbolcharakter verleiht. Weil sein Widerstand als Widerstand gegen die britische Krone begriffen wurde, ist er zum australischen Volkshelden geworden und nicht als gewöhnlicher Viehdieb in die Geschichte eingegangen.

Folktales. Kellys Aufzeichnungen sind Rohstoff für »Folktales«, mündlich überlieferte Geschichten, die man sich auch im Zeitalter des Postkolonialismus noch erzählt. Diese Folktales hat der in New York lebende australische Schriftsteller Peter Carey in einem bewundernswerten Schreibakt neu vermessen. Sein Roman ist ein Spiel mit Genres und Konventionen. Carey schafft damit das Kunststück, Kelly die Sprache zurückzugeben. Die hatte es Kelly verschlagen hat, als er, zum Tode verurteilt, 1880 im Gefängnis von Melbourne aufgehängt wurde.

Räuber haben über Jahrhunderte immer wieder die Fantasie von SchriftstellerInnen angeregt und ihre Handschrift in der Weltliteratur hinterlassen. Man denke nur an William S. Burroughs’ »Die letzten Worte des Dutch Schultz«. Gangster mögen im Mittelpunkt vieler Handlungen stehen, wenige Geschichten aber sind von ihnen selbst gestaltet worden. In kaum einem Räuber-Roman ist es so schwierig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wie in »Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang«. Schon im Titel steckt die erste Tücke, denn es ist keine wahre Geschichte, sondern der Roman eines in Amerika lebenden australischen Schriftstellers. Historische Genauigkeit hindert Peter Carey nicht daran, seine Version der Geschichte virtuos zu entwickeln und äußerst großzügig zu erzählen. Carey untersucht einen Stoff, aus dem Legenden gestrickt sind. An bloßer Geschichte ist er nicht interessiert, was ihn an der Vergangenheit reizt, sind Muster, die auf die Gegenwart zutreffen. »Für mich entsteht Vergnügen im Fiktiven durch das Erfinden. Das bringt mich gedanklich weiter und ich entdecke darin Dinge, die ich noch nicht wusste, bevor ich anfing, darüber zu schreiben.« Carey bringt Kelly mit einem einfachen Trick zum Sprechen. Er lässt ihn die Aufzeichnungen an eine Tochter richten, die er nie zu Gesicht bekommen hat, da sie mit der Mutter vor dem Zugriff der Polizei nach Amerika geflohen ist. Das verleiht Kellys Erzählungen etwas Intimes und Sehnsuchtsvolles. Und das verleiht ihm Fantasie. Bis zuletzt darf er auf ein Wiedersehen mit der Familie hoffen und bemüht sich, durch die Schilderung der Geschehnisse aus seiner Sicht um Aufklärung. So lässt Carey Ned Kelly Zeitungsausschnitte über seine Person kommentieren.

Filmische Klammer

In 14 Kapiteln rollt Carey die Geschichte von Kellys Leben neu auf. Diese 14 Kapitel entsprechen laut Carey den Aufzeichnungen Kellys, die in australischen Archiven lagern. An den Anfang jedes Kapitels setzt Carey eine genaue Beschreibung der vorhandenen Schriftstücke. Er fängt mit Kellys Ende an, das kein glückliches ist, und kehrt am Ende des Buches noch einmal zum Anfang der Geschichte zurück: Eine erzählerische Klammer, die filmisch anmutet. Dazwischen werden Kellys Familienverhältnisse offen gelegt und die verschlungenen Wege in die Kriminalität aufgezeigt. Ned Kelly, der Outlaw, ist dabei einem Westernheld zum Verwechseln ähnlich. Bei genauer Betrachtung fällt aber auf, dass Ned Kellys Bande in Careys Buch etwas anders geartet ist, als es klassische Hollywood-Western erlauben: Bandenmitglied Steve Hart trägt gerne Frauenkleider, Joe Byrne raucht Opium »vom Chinamann« und Neds eigener Bruder Dan beschuldigt den Anführer, dass er in seine Mutter verliebt sei.

Mit den Geschwistern und der Mutter wächst Kelly in einem Bretterverschlag im Nordwesten des Staates Victoria auf. Ein Feuer vernichtet alles Hab und Gut. Als Zwölf-jähriger muss Ned die Familie alleine ernähren. Korrupte Polizisten erpressen Schutzgeld und verwüsten das Anwesen. Von der Verwandtschaft befindet sich ständig jemand im Gefängnis. Kellys Vater ist verschwunden, die Mutter verkehrt mit wechselnden Freunden. Mit einem dieser Freunde, dem Bushranger Harry Power, zieht Ned Kelly zunächst durch den australischen Outback. Power wird zu Kellys Tutor, der ihm die Schönheiten der Natur zu erkennen lehrt und die Gewalttätigkeiten der Gesellschaft fürchten lässt. Zur Vaterfigur fehlt es ihm am nötigen Respekt: »Er nahm mir den Colt vom Kopf und ließ den Hahn zurückschnappen und dann erst fing er wieder an zu grinsen und verpasste mir ein Ohrfeige der Holzkopf er kannte mich nicht.«(sic!)

In fremden Zungen. Peter Carey ahmt die Stimme von Ned Kelly täuschend echt nach. Um über ein historisches Thema zu schreiben, bräuchte es alte Landkarten und Statistiken, aber man müsste vor allem in fremden Zungen sprechen, man bräuchte »correspondents from the past«, wie er es nennt. Der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon hat sein letztes Buch »Mason&Dixon« im Stil des 18. Jahrhunderts geschrieben. Carey macht etwas Ähnliches. Er belässt die Sprache Kellys in ihrem Duktus. Es ist ein reißender Wortfluss, der bis zum Schluss nicht abebbt. »Ich kenne seine Stimme so gut wie einen abgelatschten Schuh«, behauptet Carey. Einem Journalisten erzählte Carey, er wüsste von Menschen im unzugänglichen australischen Buschland, die heute noch genau so sprechen würden wie Ned Kelly. Tatsächlich wurde Carey in einem Nest namens Bacchus Marsh geboren. Es könnte auch Teil der bizarren Landschaftsbeschreibungen sein, die in der »wahren Geschichte des Ned Kelly« zu finden sind. Sein Gespür für Sprache führte Carey aber nach Amerika, wo er heute an der City University of New York Creative Writing lehrt.

Dass Australiens Geschichte auf der Erfahrung von Strafgefangenen fußt, die in eine unwirkliche Landschaft deportiert wurden, sei in seinem Unterbewusstsein verankert, erzählte er einem Journalisten. Vielleicht hat Carey dies auch dazu gebracht, der Queen bei einem Treffen den Handschlag zu verweigern. Das englische Feuilleton hat ihn daraufhin zerschmettert. Wie ein Verlierer sieht er trotzdem nicht aus, auch dafür sollte man Ned Kelly danken.

Peter Carey, »Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang«. S. Fischer Verlag. Frankfurt a.M., 2002, 447 S., 22,90 Euro.