Simulierte Realitäten

Israel nach den Wahlen | Tsafrir Cohen

Die Stimmberechtigten haben sich mit ihrer Wahlentscheidung für eine Fortsetzung der bisherigen Politik der Regierung Sharon ausgesprochen. Trotz anhaltender Rezession und dem Zustand der permanenten Bedrohung bleiben politische Alternativen im gesellschaftlichen Alltag ausgeblendet. Ernst zu nehmende Lösungsvorschläge für einen Frieden mit den Palästinensern gibt es nicht.

Allein im vergangenen Jahr kamen fast 500 israelische Zivilisten bei der zweiten Intifada ums Leben. Vor jedem Supermarkt stehen Wachen, die die Kunden von oben bis unten durchsuchen; der Campus der Jerusalemer Uni gleicht einer Festung, nur Studenten und Lehrkräfte dürfen ihn betreten. Die israelische Ökonomie befindet sich im freien Fall und steht vor ihrem dritten Rezessionsjahr. Der Chef der Zentralbank vergleicht Israel mit Argentinien und spricht von der Möglichkeit, dass die Wirtschaft kollabieren könnte. Die grausame Realität der Besatzung ist in einem nie da gewesenen Maß zur israelischen Realität geworden. Die politisch und wirtschaftlich brisante Situation hat auch zu einer Besorgnis erregenden Erosion in der politischen Kultur und der demokratischen Struktur des Landes geführt. Das Abdriften von der Position einer OECD-Nation zu der eines Drittweltlandes ist inzwischen ein mögliches Szenario.

Angesichts solcher Fakten hätte man im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im Januar eine Abrechnung mit der offensichtlich auch an den eigenen Ansprüchen gescheiterten Regierung und ein erbittertes Ringen um einen Ausweg aus der immer bedrohlicheren Situation erwartet.

Selten herrschte in Israel ein realitätsfernerer Diskurs. Auch wenn die Menschen überall mit der Realität konfrontiert werden, die Besatzung sozusagen nach Israel übergeschwappt ist, so lässt sich eine ernsthafte Diskussion um mögliche Lösungen dennoch nirgends finden. Wahrheit und Lüge, Ursache und Wirkung, alles scheint in diesen Zeiten durcheinander geraten zu sein. Man muss sogar von einer simulierten Welt und einem regressiven Diskurs in Israel sprechen.

Wahlsieger. Die Wahlen haben zwei klare Gewinner hervorgebracht: den amtierenden Premier Ariel Sharon, dessen Likudblock die Zahl seiner Parlamentssitze auf fast 40 verdoppeln konnte, und Schinui, die liberale »neue Kraft der Mitte« des Journalisten Tomi Lapid, die auf 15 Mandate kam (von insgesamt 120). Es hat sich für beide Politiker ausgezahlt, dass sie sich hüteten, etwaige realistische politische Lösungen für die existentiellen Probleme des Landes zu artikulieren. Abgestraft wurden dagegen diejenigen, die eine klare politische Agenda präsentierten, darunter die Arbeitspartei und die linksliberale Meretz. Die gesamte parlamentarische Linke verfügt nur noch über 37 Mandate, zwölf davon sind den arabischen Wählern zu verdanken. Abgestraft wurden auch die rechten Parteien, die eine Vertreibung der Palästinenser zum offiziellen Ziel erklärt haben und damit immerhin eine »reale« Möglichkeit, das Problem zu lösen, präsentierten. Schon heute ist, als Folge der Besatzung, ein Großteil der christlich-palästinensischen Bevölkerung im westlichen Ausland ansässig.

Israel hat keine realen politischen Lösungen gesucht. In solchen Zeiten spielen Personen eine große Rolle. Doch die beiden Wahlsieger wurden nicht aufgrund ihrer Taten, Äußerungen oder Qualitäten gewählt.

Ariel Sharon spielt in der Öffentlichkeit die Rolle des erfahrenen Großvaters. Sein Ruf als Kriegsverbrecher – einst wurde er von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss für nicht würdig befunden, ein Ministeramt auszuüben –, scheint hierbei kein Widerspruch zu sein, gilt er doch als Politiker, der die Sicherheit des Volkes garantiert. Die Tatsache, dass während seiner bisherigen Regierungszeit die bei weitem höchste Zahl an Terroropfern zu beklagen ist, hat ihm eher genutzt als geschadet.

Privat wird Sharon als Saubermann und als einer der letzten Pioniere wahrgenommen, auch weil er sich wie Staatsgründer David Ben Gurion (der ihn im Übrigen verachtete) in der Negev-Wüste niedergelassen hat und dort Landwirtschaft betreibt. Auf Sharons Farm arbeiten zum Beispiel philippinische Arbeiter zu Niedriglöhnen. Sharon hat zwei Söhne, die ihn politisch unterstützen; ihr Besitz stammt teilweise aus undurchsichtigen Quellen, aus der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik.

Tomi Lapid ist Vorkämpfer für das aufgeklärte Israel. Er ist seit Jahren der große Gegenspieler der religiösen Parteien, die das weltliche Israel bedrängen, ein Garant für die fällige Trennung zwischen Staat und Religion, für Hochkultur und europäische Sitten. Dass er im Kampf gegen die Religiösen kein antisemitisches Vorurteil ausließ und sich wiederholt abschätzig über Schwule, Frauen und Araber, die er keinesfalls als gleichwertige Menschen betrachtet, äußerte, ändert nichts an seinem Image als Hüter der Zivilisation und der Menschenrechte.

Selbstbilder. Zwischen dem öffentlichen Bild der beiden Spitzenpolitiker Sharon und Lapid und ihren Handlungsweisen und Haltungen tut sich eine riesige Kluft auf. Doch haben sich die Israelis darum kaum gekümmert. Bei den Wahlen hat sich das israelische Volk, enttäuscht von den Palästinensern und geeint durch die Erfahrung des Terrors, weder für eine Agenda noch für Persönlichkeiten des Vertrauens, sondern im Grunde für ein Selbstbild, das die Öffentlichkeit seit jeher von sich besaß, entschieden.

Zu diesem von Sharon und Lapid repräsentierten Selbstbild gehört die Gestalt des Pioniers, der die Seinen vor äußeren Feinden verteidigt, das brache Land zur Blüte bringt und die Sümpfe trockenlegt; zu dieser positiven Figur des Aufbaus gesellt sich die kulturelle Überlegenheit des modernen Europäers, der die Fahne der Aufklärung hochhält.

Hierbei handelt es sich um das israelische Ethos schlechthin. Das ahistorische Selbstbild definiert das Land a priori und ausschließlich als passives Opfer der Weltgeschichte. In diesem unerschütterlichen Bild können sich die Israelis nicht als aktive Aggressoren wahrnehmen, als Besatzer, die völkerrechtswidrig eine Bevölkerung unterdrücken und ausrauben. Sie besetzen kein Land, sondern schützen sich, sie konfiszieren kein Land, sondern machen es fruchtbar, sie erobern nicht, sondern bringen die Aufklärung.

Gerechter Frieden. Ariel Sharon ist vielleicht ein Extremist, doch er wurde keinesfalls jenseits des israelischen Konsenses geformt, und er agiert bis heute in diesem Feld. Er ist ein Kind des israelischen Establishments, Held, hoch dekorierter General. Lange Zeit war die Arbeitspartei seine politische Heimat. Was Sharon heute darstellt, war für sie, wie für große Teile der israelischen Linken und die Rechte seit jeher die offizielle Sichtweise.

So war es, als man zu Beginn des zionistischen Unternehmens ein Land ohne Bevölkerung imaginierte; auch 1948, als man sich einbildete, keine Palästinenser vertrieben zu haben; auch 1967, als man davon ausging, als aufgeklärte Besatzer nicht auf die besetzten Gebiete verzichten zu können; auch später, als Golda Meir sagte, sie wüsste nichts von einem palästinensischen Volk; und noch später, als Begin und Schamir behaupteten, es gebe auf der anderen Seite keinen Gesprächspartner; auch während der Friedensverhandlungen, als weder Rabin noch Peres auch nur eine einzige Siedlung geräumt haben.

Teil dieses Selbstbildes ist der immer währende Friedenswille. Auch Sharon spricht von einem palästinensischen Staat. In Israel spricht man immer vom eigenen Friedenswillen, als ob dieser ein Axiom wäre. Es ist selbstverständlich, dass jeder Israeli Frieden will, bis auf ein paar Verrückte. Als solche wurden von der israelischen Öffentlichkeit, vom eingesetzten Untersuchungsausschuss und vom Gericht die Mörder Rabins wahrgenommen.

Imaginärer Gegenüber. Der Friedensbegriff wurde immer als apolitisch verstanden, in dem Sinne, dass er nie einen Realitätsgehalt hatte. So konnten auch die Siedler behaupten, sie wollten »nur in Frieden leben« und gleichzeitig jeden Friedensvertrag unmöglich machen. So konnten die israelischen Regierungen ihren Friedenswillen bekunden und gleichzeitig keine einzige Siedlung räumen, sie eher vergrößern lassen, sodass sich die Zahl der Siedler in den letzten Jahren – unter allen Ministerpräsidenten – mehr als verdoppelte.

Das Scheitern der Friedensverhandlungen unter Barak und die neuen Pläne eines einseitigen Rückzuges aus noch zu nennenden Gebieten, verdeutlichen das Simulationsprinzip, das das Selbstbild ermöglicht. In seinem Buch Le rêve brise / Histoire de l’échec du processus de paix au Proche-Orient 1995–2002 (erschienen bei Fayard, Paris) stellt der langjährige Israel-Korrespondent des zweiten französischen Fernsehens, Charles Enderlin, dar, wie wenig Barak sich auf die Friedensverhandlungen und vor allem auf sein Gegenüber einließ. Der Journalist, der das Vertrauen aller Beteiligten besaß und sie häufig und zeitnah traf, berichtet darin, dass Barak Arafat »großzügige Angebote« unterbreitete. Vielleicht waren diese im innerisraelischen Kontext großzügig, doch entsprachen sie nicht einmal den Minimalforderungen der Palästinenser. Barak habe – wenn er nicht nur Friedenswillen simuliert hat, was Enderlin nicht ausschließt – alle Rollen selber gespielt. Er kam mit einem fertigen Friedensplan, bestimmte, worüber diskutiert wurde und diktierte den Zeitplan. Barak hatte schon vor den Verhandlungen die Friedensgespräche mit einem imaginären Gegenüber geführt und mit diesem auch einen Frieden geschlossen.

Der Friedensprozess als Selbstgespräch wird bis heute weitergeführt: Die Rechten sprechen von einem Palästinenserstaat auf etwa 40 Prozent der besetzten Gebiete. Barak hatte noch über 90 Prozent angeboten, aber da die besetzten Gebiete nur etwas über 20 Prozent des historischen Palästina darstellen, lehnten die Palästinenser ab.

Die so genannte Mitte, unterstützt von einer Mehrheit der Arbeitspartei, diskutiert die immer populärer werdende Idee eines einseitigen Rückzuges aus Teilen der besetzten Gebiete. Dass der Rückzug nicht so gestaltet wird, wie die Palästinenser sich das vorstellen, und dass daher der Konflikt nicht gelöst wird, bleibt unerwähnt.

Fehlendes Interesse. Um das Selbstbild zu erhalten und weiterhin tun zu können, was man will, wird das Gegenüber, »der Araber«, einfach ignoriert. Zur ersten Simulation des Friedenswillen gesellt sich notwendigerweise eine Simulation der anderen Seite. Nirgends hört man weniger über die palästinensische Gesellschaft als in den israelischen Medien, und wenige wissen, wie es in den besetzten Gebieten aussieht. Es ist keine Frage der Zensur, es fehlt einfach an Interesse. Das Friedensgespräch bleibt innergesellschaftliche Selbstbespiegelung.

Die simulierte Realität und die tatsächliche Realität des Konfliktes und des Gegenübers berühren einander kaum. Man konnte das nach dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David endgültig feststellen. Die Reaktion derjenigen, die nicht von vornherein eine Lösung verhindern wollten, war nicht Enttäuschung über das Scheitern, sondern Enttäuschung über die Palästinenser. Es konnte nicht Barak oder die israelische Seite sein, die die Weiterführung der Gespräche verhinderte. Dass Frieden ein durch und durch politischer Vorgang ist, politisch in dem Sinne, dass es nicht um die Bestätigung eines Selbstbildes jenseits der Realität geht, sondern um reale Interessen, um einen Konflikt, bei dem jede Seite eine eigene Wahrheit hat, dass bei einem Friedensvertrag zwei gleichberechtigte Seiten aufeinander treffen, die für ihre realen Bedürfnisse einen realen Kompromiss finden müssen, das kam nie in Betracht.

Nach dem Scheitern von Camp David gab es Gespräche zwischen Israelis und bedeutenden palästinensischen Politikern. Sie führten zu einem fast unterschriftsreifen Friedensvertrag. Doch scheint das die israelische Öffentlichkeit kaum zu berühren. Dort gilt, die Israelis haben Frieden angeboten, ihr Wunsch blieb unerhört. Jetzt haben sie die Gewissheit, dass sie die nächsten Jahre mit Sharon und Lapid sicher und gerecht verbringen werden.

Tsafrir Cohen ist in Israel und Kanada aufgewachsen. Er lebt und arbeitet als Journalist und Essayist in Berlin, wo er das Jewish Filmfestival gründete.