Samstag, 18.04.2020 / 09:40 Uhr

Der Nahe Osten als Pandemie

Von
Oliver M. Piecha

So ansteckend wie Covid-19, toxisch und kontaminierend ist der Zustand des Nahen Ostens. Zwei Meldungen demonstrieren, was hier unnachahmlich konsequent falsch läuft.

 

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(Irgendwo in Syrien, Bild: Ryad Alhussein)

 

Das iranische Fernsehen hat ein Kind interviewt, das ruhig und lächelnd erklärt, warum es sich freiwillig für den Krieg in Syrien gemeldet hat. Der kurze Ausschnitt schockiert mit seiner geradezu perversen Offenherzigkeit – der „Interviewer“ möchte es ganz genau wissen, gibt übereifrig die Stichworte vor und ist selbst so richtig aufgeregt über die hübsche Propaganda. Eigentlich ist es ehrlich; wenn man es auf einen Punkt bringen will, genau das ist die Perspektive dieser kaputten Staaten: Am besten schon Kinder in den Tod schicken. Mehr ist da ja nicht.

Wie sehr im Nahen Osten allerdings der Irrsinn gerade zusammenfließt und droht, sich zu einem einzigen, zähen Schlammloch zu vereinen, das illustriert die Nachricht, dass Russland ein paar Hundert ehemalige syrische Rebellen aus den Gebieten um Damaskus angeworben hat, um sie in Libyen für General Haftar kämpfen zu lassen. Sie treffen dort als Gegner auf andere ehemalige syrische Kämpfer gegen Assad, die die Türkei als Söldner für die offizielle libysche Regierung dorthin gebracht hat. Der Unterschied ist bloß: Russland zahlt den Syrern die Hälfte, von dem, was die Türkei springen lässt, nämlich 1000 Dollar im Monat. So oder so, was den Syrern noch bleibt als ökonomischer Sektor neben dem Fluchtbetrieb ist das Kriegswesen.

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(Quelle: The New Arab)

 

Gerade warnt die WELT an Europas Südgrenze dürfe keine zweites Syrien entstehen. Nun, es ist doch längst da. Aber auch das ist keine neue Erkenntnis. Der Krieg in Syrien, dem man von Europa aus jahrelang untätig zugeschaut hat, destabilisiert die Region – und wird das weiter tun, solange in Damaskus ein Regime sitzt, dass sich nur mit einem vom Iran und Russland getragenen Krieg im eigenen Land an der Macht halten kann.

Nervosität der Führer

Die Pandemie kann man auch proaktiv nutzen, um ein Problem loszuwerden, oder es zumindest zu versuchen, wofür der saudische Kronprinz gerade ein Beispiel bietet: Er möchte aus dem desaströsen Krieg im Jemen aussteigen. Die Voraussage sei gewagt, dass ihm das nicht gelingen wird. Sein generöses Waffenstillstandsangebot an die Houthis hat er zwar ganz zeitgemäß humanitär mit „Corona“ dekoriert, aber es gründet doch eher auf dem für die Saudis und die offizielle Regierung katastrophalen Kriegsverlauf.

Nach dem Ausstieg der Emiratis aus der Koalition gegen die Houthis lief es noch schlechter als vorher. Und letztere bedrohen im Norden des Jemen nun die Stadt Marib, eine psychologisch wie strategisch zentrale Bastion der von den Saudis zusammengehaltenen offiziellen Regierung. Aber auch wenn die Islamische Republik Iran im Jemen ihrem alten Feind Saudi-Arabien dessen Grenzen deutlich aufgezeigt hat, und die Saudis sich am liebsten ungesehen davon machen würden, was haben die Iraner eigentlich davon?

Die Straßen sind plötzlich leer, ob in Istanbul, Bagdad oder Beirut. Und ja, Seuchenzeiten bieten Möglichkeiten zur Inszenierung von Staatsmacht.

Das Corona-Virus ermöglicht Staaten und Regimen, die sich längst in fortgeschrittenen Stadien zwischen Wiederbelebung und Agonie befunden haben, eine – es klingt in diesem Zusammenhang besonders makaber – Atempause; es könnte aber für manche Akteure im Nahen Osten auch nur das Atemholen für ein letztes Röcheln sein. Zuerst einmal ist es jedoch positiv für manche Regierung, wenn zwar alles ruiniert ist, aber vor lauter Pandemie die Zwangsräumung nicht mehr zugestellt werden kann.

Die Demonstrationen im Libanon, im Irak oder Algerien hat Corona abgewürgt, und im Netz lässt sich nun mal nicht wirklich demonstrieren. Die Straßen sind plötzlich leer, ob in Istanbul, Bagdad oder Beirut. Und ja, Seuchenzeiten bieten Möglichkeiten zur Inszenierung von Staatsmacht.

Das kann allerdings umso schneller umschlagen und die Machttechniker überfordern, das hat gerade das Beispiel des türkischen Innenministers mit seiner Ad- hoc-Ankündigung einer Ausgangssperre gezeigt; er durfte nach den vorhersagbaren chaotischen Szenen seinen angebotenen Rücktritt zwar wieder zurückziehen, denn der große Führer braucht ihn dringend, aber die Episode war eine eklatantes Zeichen von Schwäche.

Die großen und kleinen Führer sind nervös. Und es ist mit hohem Risiko verbunden, etwa für Erdogan, nun praktisch wie auf einem Präsentierteller eine nächste Flüchtlingskrise in der Ägäis zu inszenieren. Da hat jemand arge finanzielle Sorgen, die keinen Aufschub mehr vertragen, die EU soll also wohl mehr zahlen. Auch das ist ein Symptom von Corona. Die Zeit fehlt. Was wird Erdogan eigentlich so ganz ohne jede Tourismus-Saison in der Türkei machen?

Ökonomische Misere

Entscheidend sind gerade die ökonomischen Perspektiven. Die Leere der Straßen gleicht sich auf den ersten Blick, ob in Paris, München oder Istanbul, aber die finanziellen Voraussetzungen sind ganz andere. In Beiruts Präsidentenpalast mag man sich freuen, dass die nervenden Demonstranten von der Straße weg sind, aber der Offenbarungseid ist eben doch schon unterschrieben.

Die Krise dieses Nahen Ostens kommt nicht mit einem Höchststand von Infizierten – das Zahlenwerk ist hier sowieso noch mehr Produkt der Phantasie als andernorts – sie kommt mit dem ökonomischen Zusammenbruch. Wenn die Rechnung kommt, und keiner kann sie mehr bezahlen. Und die Frage ist nur, wie lange diese Übergangszeit dauert.

In absoluten Zahlen hat der Nahe Osten abgesehen vom Iran immer noch kein Corona-Desaster erlebt, und gemessen daran, woran Menschen hier sowieso vermeidbar sterben, muss sich das Virus auch anstrengen, um statistisch bemerkbar zu werden. Aber da, wo in Europa nun über langsame, schrittweise Abschwächung der Quarantäne debattiert wird – in Monatsschritten –, haben die schwachen Staaten der Region gar nicht die Möglichkeit längerfristige Maßnahmen zur Stilllegung der Öffentlichkeit zu finanzieren.

Der Libanon gehört zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt, seine Versorgung hängt existentiell von Importen ab, das libanesische Bürgertum wird weithin verarmen, das war schon vor Corona klar.

Die Quarantäne treibt die Gesellschaft in den endgültigen Ruin – also öffnen in Assads Syrien die Geschäfte wieder. Im Libanon haben die Restaurants und Geschäfte noch geschlossen, nur hat die angekündigte staatliche Unterstützung bisher nicht funktioniert, und ein Konjunkturprogramm danach wird es erst recht nicht geben.

Wie viele Geschäfte werden wieder aufmachen? Wie lange geht das hier überhaupt, wo man sich das schon im Westen selbst fragt? Der Tauschkurs der Währung verfällt, die Berechnungen, wie viele Milliarden in dem maroden Bankensystem und Staat versenkt worden sind, werden immer horrender, und die Aussichten sind extrem düster. Der Libanon gehört zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt, seine Versorgung hängt existentiell von Importen ab, das libanesische Bürgertum wird weithin verarmen, das war schon vor Corona klar. Und mit den Corona-Folgen?

Solche Aussichten, die beim Libanon nur besonders zugespitzt erscheinen, denn das Land war praktisch pünktlich zum Ausbruch der Pandemie zahlungsunfähig, drohen der ganzen Region.

Keine guten Nachrichten für Assad

In Syrien, das symbiotisch mit der libanesischen Wirtschaft verbunden ist, dürften gerade – nur als Beispiel für die ökonomisch zusammenhängenden desaströsen Folgeschäden der Pandemie – die Auslandsüberweisungen einbrechen. Die für das Überleben der Bevölkerung wichtigen informellen Überweisungen jenseits des Bankensystems und offizieller Umtauschkurse funktionieren nicht ohne persönliche Kontakte und Mobilität.

Syrien gehört im weltweiten Maßstab zu den Ländern mit dem höchsten Anteil der Auslandsüberweisungen am Nationaleinkommen. Geschätzt die Hälfte dieser Gelder kommen zudem aus dem Libanon, der Türkei und Jordanien – Länder, die nun selbst von der Krise schwer betroffen sind. Darauf muss Assad eine Antwort finden, aber wie? Nun naht auch noch der Ramadan, und selbst die Staatszeitungen berichten über steigende Preise für Nahrungsmittel.

Die internationalen Nachrichten waren in den letzten zwei Wochen nicht gut für Assad.

Immerhin, gerade hat wieder ein russisches Schiff mit 150 Panzerfahrzeugen den Bosporus passiert. Das wird Ersatz sein für die vielen jüngst von den Türken abgeschossenen Panzer, dieses Spiel könnte ewig dauern, Russland hat aus kalten Kriegszeiten noch zigtausende alte Panzer eingemottet, aber damit kann Assad seine Rechnungen auch nicht bezahlen und zum Essen taugen sie auch nicht.

Die internationalen Nachrichten waren in den letzten zwei Wochen nicht gut für Assad; zuerst hat ein ausführlicher Bericht an den UN-Sicherheitsrat „die syrische Regierung und /oder ihre Verbündeten“ für Luftangriffe auf Hospitäler und Schulen verantwortlich gemacht. Dass Russland verhindern konnte, namentlich genannt zu werden, dürfte für Assad kein Trost gewesen sein.

Kurz darauf die nächste hässliche Schlagzeile: Die für Giftgas zuständige internationale Organisation OPCW hat der syrischen Luftwaffe drei Giftgasangriffe im Frühjahr 2017 zugeordnet. Das wusste man zwar schon vorher, und eine gerade veröffentliche interaktive Übersicht zu Giftgasattacken im syrischen Krieg listet rund 350 Angriffe auf – aber nun ist es sozusagen amtlich (trotz aller jahrelangen Bemühungen von Giftgasleugnern und Assad-Propagandisten, wobei wohl eher nicht zufällig ist, dass sich solche Protagonisten auch als Corona-Verschwörungstheoretiker bewähren).

Das Regime in Damaskus hat also die Vereinbarungen zur Vernichtung seiner Chemiewaffen verletzt. Zur Erinnerung: Dieses Abkommen hatte Russland 2013 eingefädelt und rettete damit Obama aus seiner Verhedderung mit den „roten Linien“. Nun sollte eigentlich der UN-Sicherheitsrat aktiv werden. Es gehört nicht viel Imaginationskraft dazu, vorauszusagen, dass es dazu nicht kommen wird, weil weder China noch Russland dem zustimmen werden.

Assad hat trotzdem ein Problem: Seine Sanktionen kriegt er jetzt erst recht nicht los. Da mag der Papst in der Osteransprache im Zeichen von Corona zur Aufhebung von Sanktionen aufrufen, das Regime von Assad wirft einen zu deutlichen Totenkopfschatten.

Aber vermutlich wäre auch das gar nicht das Kernproblem: Sein Regime hat nichts anzubieten, im Schlepptau des Iran und der Hisbollah kann es keine regionale Stabilität versprechen, und am wenigsten ein Ende der Flüchtlingsproduktion. Es ist schließlich der Hauptfluchtgrund für die Menschen in Syrien.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch