Der Prozess wegen der Massaker bei »Charlie Hebdo« und im Hyper Cacher hat begonnen

Die 14 Angeklagten

In Paris hat der Prozess wegen der Massaker in der Redaktion von »Charlie Hebdo« und im koscheren Supermarkt Hyper Cacher begon­nen. Die Haupttäter sind tot, einige wichtige Verdächtige flüchtig.

Es ist ein Mammutprozess, der am Mittwoch voriger Woche im Pariser Justizpalast begonnen hat. 171 Tonnen wiegen die Prozessunterlagen. Insgesamt 49 Verhandlungstage sind bis zum 10. November angesetzt. 84 Anwälte und Anwältinnen werden plädieren, Strafverteidiger wie Opferanwälte als Vertreter der Nebenkläger. 90 Medien, unter ihnen 27 ausländische, wurden für die Prozessbeobachtung akkreditiert. Ausnahms­weise sind auch Foto- und Filmaufnahmen von der Verhandlung zugelassen. Diese sind in französischen Gerichtssälen untersagt, können jedoch auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1985 ausnahmsweise erlaubt werden, wenn das besondere historische Interesse an ­einem Prozess es rechtfertigt.

Es geht um die Ermordung von 17 Menschen im Januar 2015 im Raum Paris, die wegen der Tatumstände und der Wahl der Ziele für internationales Aufsehen sorgten – um die jihadistischen Anschläge auf die Redaktion der Wochenzeitung Charlie Hebdo am 7. Januar in Paris, auf eine in Martinique geborene Polizistin am 8. Januar in der Vorstadt Montrouge sowie auf den koscheren Supermarkt Hyper Cacher am Pariser Stadtrand am 9. Januar. Begangen wurden sie von den Brüdern Chérif und Saïd Kouachi sowie Amedy Couli­baly, die seit Jahren in Kontakt mit einem al-Qaida-Rekrutierer in Frankreich, Djamel Beghal, standen.

Hayat Boumeddiene, die Witwe des Geiselnehmers von 2015 im Hyper Cacher, Amedy Coulibaly, scheint kürzlich aus dem nordostsyrischen Lager al-Hol geflohen zu sein.

Millionen Menschen demonstrierten damals, um ihre Abscheu kundzutun. Allein in Paris wurde ihre Zahl am 11. Januar 2015 offiziell mit vier Millionen angegeben; auch wenn dies wohl leicht übertrieben war, fiel die Demonstration doch spektakulär aus, über Stunden war kein Durchkommen in der Innenstadt. Doch fünfeinhalb Jahre danach schien die Erinnerung verblasst zu sein. Seit Anfang der vorigen Woche liefen jedoch zahlreiche Dokumentationen mit Rückblenden in den französischen Medien.
Die ersten, öffentlich geführten Debatten über den angelaufenen Prozess gegen die Angeklagten betrafen die Verfahrensumstände. Ursprünglich hieß es, alle Beteiligten sollten ständig einen Mund-Nasen-Schutz tragen, doch dagegen rebellierten die beteiligten Anwälte, da auch Emotionen, Gesichtsausdruck und Haltung wichtige Elemente einer solchen Verhandlung seien. Schließlich wurde das Tragen einer Maske denen, die jeweils das Wort haben, freigestellt. Darüber gerieten zunächst vor allem Verteidiger der An­geklagten untereinander in Konflikt: Beryl Brown echauffierte sich darüber, hier würden die fünf Richter der für Terrorsachen zuständigen Sonderstrafkammer »über Männer urteilen, deren Gesicht Sie nicht sehen können«. Darauf antwortete der ebenfalls als Strafverteidiger engagierte Chris­tian Saint-Palais: »Wenn nur einer von uns angesteckt wird, ist der Prozess ­gelaufen.«
Die Emotionen der Hinterbliebenen mehrerer Mordopfer kamen im Gerichtssaal zum Ausdruck. Am spürbarsten, als der Vorsitzende Richter Régis de Jorna den Namen des getöteten Zeichners Stéphane »Charb« Charbonnier von Charlie Hebdo zunächst mit »François Charbonnier« falsch wiedergab, woraufhin dessen Mutter im Verhandlungssaal in Tränen ausbrach. Zu Verhandlungsbeginn unterbrachen wiederholte Zwischenrufe die Vernehmung der Angeklagten zur Person: »Man hört nichts, man hört nichts!« Doch die technischen Probleme bei der Tonübertragung konnten nach einiger Zeit ­behoben werden.
Elf Angeklagte sitzen im Gerichtssaal – nicht aber die Haupttäter, die Brüder Kouachi und Coulibaly, die bei Schusswechseln mit der Polizei starben. Gegen drei Angeklagte wird in Abwesenheit verhandelt. Die in der Bou­levardpresse oft als »Terrorwitwe« bezeichnete Hayat Boumeddiene, die mit dem Geiselnehmer vom Hyper Cacher, Amedy Coulibaly, religiös verheiratet war, soll durch betrügerische Machenschaften den Kauf der Tatfahrzeuge finanziert haben. Sie konnte kurz nach der Tat über die Türkei nach Syrien ausreisen. Im Januar 2015 erschien ein Interview mit ihr im Propagandamagazin des »Islamischen Staats« (IS), Dar al-Islam, unter dem Titel »Gott verfluche Frankreich«. Im Frühjahr 2015 hörte die französische Polizei ein Telefonat ab, das sie aus Raqqa, der »Hauptstadt« des IS, mit einer Freundin in Frankreich führte. Die Aussage der 31jährigen tunesischstämmigen Französin Sonia M., die sich nach ihrer Rückkehr aus Syrien der Justiz als Zeugin gegen im Nahen Osten aktive französische Jihadisten zur Verfügung gestellt hat, deutet darauf hin, dass Boumeddiene noch am Leben ist. Nach eigenen Angaben verbrachte Sonia M. im Jahr 2019 mehrere Monate zusammen mit Boumeddiene im nordostsyrischen Lager al-Hol, in dem vor ­allem Jihadistinnen mit ihren Kindern untergebracht sind und das unter der Kontrolle syrisch-kurdischer Verbände steht. Boumeddiene scheint dann aus dem Lager al-Hol geflüchtet zu sein.
Sonia M.s Aussage gilt in dem Verfahren zu den Morden in der Redaktion von Charlie Hebdo und im Hyper Cacher auch deswegen als wichtig, weil sie angibt, ihr früherer Ehemann auf dem Gebiet des IS, der 1973 in Algerien geborene Abdelnasser Benyoucef alias Abou Mouthana, sei ein wichtiger Anstifter für Amedy Coulibaly gewesen und habe dessen Tatentschluss befördert. Benyoucef wurde vermutlich 2016 im syrisch-irakischen Grenzgebiet getötet.
Zwei weitere Jihadisten, die in Paris mit den elf dort Anwesenden mit auf der Anklagebank hätten sitzen sollen, sind mutmaßlich ebenfalls im Nahen Osten zu Tode gekommen, allerdings ist diese Frage noch nicht definitiv ­geklärt. Es handelt sich um die französisch-algerischen Brüder Mohamed und Mehdi Belhoucine, die wahrscheinlich Coulibaly beim Abfassen des Schreibens, in dem er dem IS die Treue schwor, sowie Boumeddienne bei der Flucht aus Frankreich über Istanbul halfen und die Verbindung zur Führungsebene des IS hergestellt haben dürften.
Eine der Besonderheiten der Mordserie im Januar 2015 besteht darin, dass Amedy Coulibaly zumindest indirekt mit dem IS in Verbindung stand, die Brüder Kouachi jedoch mit der rivalisierenden al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) im Jemen.
So befinden sich überwiegend Leute auf der Anklagebank, die im begründeten Verdacht stehen, eine wichtige Rolle bei der Beschaffung der für die Mordtaten erforderlichen Waffen oder Fluchtfahrzeugen gespielt zu haben. Dem zuständigen Staatsanwalt Jean-François Ricard zufolge handelt es sich bei ihnen nicht um einfache »Handlanger«, sondern um Menschen, die »unverzichtbar für den Terror« gewesen seien.
Mehrere der Angeklagten waren entweder mit den Brüdern Kouachi oder mit Coulibaly inhaftiert gewesen. Viele von ihnen wuchsen unter schwierigen Umständen auf. Der 36jährige Abdelaziz Abbad erlitt im Alter von neun Jahren lebensgefährliche ­Verbrennungen bei einem Unfall mit Benzin und war vier Jahre lang in Reha-Behandlung. Miguel Martinez ist mutmaßlich einer der Waffenlieferanten der Kouachi-Brüder und ansonsten Heroinhändler, sein Vater beging Selbstmord, als er acht Jahre alt war. Der 34jährige Willy Prévost wurde im Alter von neun Jahren durch einen Querschläger bei einem Schusswechsel in der Hochhaussiedlung La Grande Borne nahe Paris verletzt. Die Mehrzahl von ihnen blickt auf eine kriminelle Vergangenheit zurück, unter ihnen auch der 50jährige türkischstämmige ­Metin Karasular und der 77jährige ­Michel Catino, die beiden Betreiber eines Cafés im belgischen Charleroi, das offenbar als Umschlagplatz für vom Balkan stammende Schusswaffen diente.
Abbad und Martinez hielten sich den Ermittlungen zufolge Ende 2014 oder Anfang Januar 2015 in Charleroi auf, trafen dort Karasular in einer Werkstatt und beschafften Waffen nach einer Liste, die der Mitangeklagte Ali Riza Polat vorbereitet hatte. Prévost kaufte ­demnach schusssichere Westen, Messer und einen Elektroschocker für Couli­baly, den Ermittlern gilt er als Krimineller, nicht als Terrorist.
Die Ideologie der Haupttäter teilt hingegen allem Anschein nach ein enger Freund Coulibalys, der 35jährige Ali Riza Polat, auch wenn er dies vor Gericht zu leugnen versuchte und wiederholt darauf bestand, er sei geldgierig (»Ich will reich sterben«) – was eigentlich nicht in seinem Interesse sein dürfte, da dies als »niedriger Beweggrund« eingestuft werden könnte. Die meisten Angeklagten werden wegen Beihilfe zu den Haupttaten der Brüder Kouachi und Coulibalys ohne umfassendes Wissen über deren Pläne verfolgt, Riza Polat hingegen wird als möglicher Mitwisser und dadurch Mittäter eingestuft und riskiert lebenslängliche Haft.
Riza Polat, in Istanbul geboren und kurdischer Herkunft, als Kind nach Frankreich gekommen, bezeichnete sich im Laufe der Verhandlung als »zum Islam konvertiert«, obwohl er ohnehin in eine muslimische Familie hineingeboren worden war. Für den Angeklagten sind seine Eltern jedoch falsche Gläubige, sie hätten Schweinefleisch gegessen. Das deutet darauf hin, dass Riza Polat salafistische Ansichten teilt.
Am Tag des Prozessbeginns hatte Charlie Hebdo die Mohammed-Karikaturen, die die Mörder als Motiv für ihr Massaker in den Redaktionsräumen angaben, erneut gedruckt. In Pakistan fanden deswegen Demonstrationen wutentbrannter Islamisten statt, das ägyptische theologische Institut al-­Azhar bezeichnete den Nachdruck als »Verbrechen«, die türkische Regierung bekundete ihre »Verurteilung«.