Auf den Straßen der USA eskaliert die Gewalt - geschürt wird sie nicht zuletzt vom Präsidenten.

Trumps Strategie der Spannung

Zwei Monate vor der Wahl eskaliert die politische Gewalt auf US-amerikanischen Straßen. Nach mehreren Todesfällen verspricht die Regierung, mit allen Mitteln für Ordnung zu sorgen.

»Niemand wird in Bidens Amerika sicher sein!« Das war Donald Trumps Botschaft, als er am 27. August die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der republikanischen Partei entgegennahm. Der Garten des Weißen Hauses war in eine Bühne für Trumps Wahlkampf-Show verwandelt worden. Das Thema, drei Tage lang: Gefahr. Gefahr durch Verbrechen, durch China, durch die angeblich radikale Agenda der Demokraten – und durch »Krawalle, Plünderung, Brandstiftung und Gewalt« in den Städten des Landes. Für die Demokraten seien die USA »ein Land voller rassistischer, ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit«, warnte Trump. »Diese Wahl wird entscheiden, ob wir den American way of life verteidigen oder ob wir einer radikalen Bewegung erlauben, ihn zu zerstören.«

Über 180 000 Covid-19-Tote verzeichnen die USA mittlerweile. Millionen Menschen, die im Frühjahr ihre Arbeitsplätze verloren haben, warten vergeblich auf eine wirtschaftliche Erholung. Während Demokraten Präsident Trump Missmanagement in der Pandemie vorwerfen, fluten die Republikaner die Fernsehsender mit Wahlwerbespots, die schockieren sollen: »Gewalttätige Radikale haben die Städte übernommen!« Trump versprach: »Wenn die Demokraten sich auf die Seite der Anarchisten, Agitatoren, Unruhestifter, Plünderer und Flaggenverbrenner stellen wollen, ist das ihre Sache – ich als euer Präsident werde das nicht mitmachen.«

Seit Mai seien Rechtsextreme 497mal bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt aufgetaucht, dokumentierte das Center for Analysis of the Radical Right.

Bereits 2016 hatte Trump die Demokratische Partei als eine existentielle Bedrohung für das Land dargestellt. Das traf die apokalyptische Stimmung der rechtskonservativen Bewegung, die nach acht Jahren Präsidentschaft Barack Obamas das Gefühl hatte, dass das Land ihnen entgleite. Seitdem hat sich die politische Rhetorik der Rechten weiter verschärft. Joe Biden, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, repräsentiert den eher konservativen Flügel der Partei. Aber die Massenproteste seit der Tötung George Floyds durch einen Polizisten im Frühjahr, die immer wieder zu Unruhen und Plünderungen führten, bieten eine Gelegenheit, die Demokratische Partei mit Radikalismus und dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in Verbindung zu bringen.

Anfang August warnte der Justizminister William Barr vor »einer neuen Form des urbanen Guerillakampfs« in den Städten der USA, einer »bolschewistischen« Bewegung mit »faschistischen Taktiken«, die mit der Radikalisierung der Demokratischen Partei erstarkt sei.

Diese paranoide Rhetorik schien lange nicht zu zünden. Die Ermordung George Floyds hatte die Zustimmung für die Anliegen der »Black Lives Matter«-Bewegung auf Rekordwerte steigen lassen. Einer Studie zufolge sollen zwischen 15 und 26 Millionen Menschen an den spontanen Protesten gegen Polizeigewalt teilgenommen haben, fast zwei Drittel der Bevölkerung unterstützten das Anliegen. Biden konnte sich mit den Protesten solidarisieren, ohne Stimmen zu verlieren. Doch eine Reihe von Gewalttaten in der vorigen Woche brachte wieder Trumps Amerika in den Vordergrund: das der Straßenkämpfe, der Bürgerkriegsatmosphäre und der Milizen.

Einen Tag bevor sich Trump in Washington, D.C., zum Kandidaten küren ließ, hatte der 17jährige Kyle Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin, zwei Menschen erschossen und einen weiteren schwer verletzt. In der 100 000 Einwohner zählenden Stadt im Mittleren Westen hatte es zuvor tagelange Proteste gegeben, nachdem ein Polizist den Afroamerikaner Jakob Blake niedergeschossen hatte. Dabei kam es auch zu Ausschreitungen. Demonstranten setzten Geschäfte und das Gefängnis in Brand. Rittenhouse war mit einem Gewehr bewaffnet gemeinsam mit anderen, offenbar spontan über Facebook organisierten Milizionären aus seiner nahegelegenen Herkunftsstadt angereist. Offenbar geriet er dabei in Konflikt mit Demonstranten: Videos zeigen einen vor teils bewaffneten Verfolgern flüchtenden Rittenhouse, der mit seinem Sturmgewehr mehrere Menschen niederschießt. Die Polizei verhaftete ihn erst, nachdem er die Stadt verlassen hatte. Es seien so viele Bewaffnete in der Stadt gewesen, dass er nicht sofort als Täter erkennbar gewesen sei.

Kenosha, rund 80 Kilometer von Chicago entfernt, sei eine »Stadt der Kon­traste«, schreibt die Washington Post. »Ein diverser urbaner Kern ist umgeben von wohlhabenderen, weißeren Vororten und ländlichen Siedlungen, wo verlassene Autofabriken neben Millionen-Dollar-Häusern am Seeufer und teuren Läden stehen. Die Stadt befindet sich einer landesweiten Untersuchung zufolge in einem Teil von Wisconsin, der wegen großer ethnischer Ungleichheiten bei Einkommen und Inhaftierungsraten einer der schlechtesten Orte für Afroamerikaner ist.« 2018 sagte der Sheriff von Kenosha nach der Verhaftung einiger schwarzer Ladendiebe: »Manche Menschen sind es nicht wert, dass man sie rettet.« Man könne sie nur für immer »wegsperren«.

Rittenhouse war seinen social media-Profilen zufolge geprägt von der populären Polizeiverherrlichung, die in der Trump-Ära auch unter dem Label »Blue Lives Matter« eine Art Gegenbewegung zu »Black Lives Matter« bildet. Für die Unterstützer des bestehenden Polizeisystems sind die Fronten klar: Trump ist ihr Mann, die Demokraten sind der Gegner. »Die Regierung Obama und das An-die-Kette-Legen und die Unterdrückung der Polizei waren verabscheuungswürdig«, sagte der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft von Minneapolis bei einer Kundgebung Trumps vor einem Jahr. Obama hatte, da die Bundesregierung kaum über Möglichkeiten verfügt, eine landesweite Polizeireform durchzusetzen, die Kontrolle des Justizministeriums über die Polizei verschärft. Trump nahm diese Reformen zurück.

Die Ursprünge der rechtsextremen Milizbewegung liegen im Terrorismus der Neunziger. Seit Jahren sind selbsternannte patriotische Ordnungshüter, oft schwerbewaffnet, ein alltäglicher Anblick bei Demonstrationen. »Gibt es Patrioten, die bereit sind, zu den Waffen zu greifen und unsere Stadt vor den bösen Krawallmachern zu verteidigen?« fragte eine Facebook-Gruppe namens Kenosha Guard einen Tag vor den Gewalttaten.

Nun könnte Rittenhouse zum Märtyrer dieses Milieus werden. Auf Facebook gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen, eine Crowdfunding-Kampagne sammelte schnell eine Viertelmillion US-Dollar. Ein Anwaltsteam, das zuvor Persönlichkeiten aus dem Umfeld Trumps vertreten hatte, nahm Rittenhouse unter seine Fittiche und versucht, ihn als ein Opfer linker Gewalt darzustellen, das nur aus Notwehr gehandelt habe. »Wie schockiert können wir sein, dass sich 17jährige mit Gewehren entschließen, die Ordnung erhalten zu müssen, wenn es sonst niemand tut?« fragte der Fox-News-Star Tucker Carlson nach der Verhaftung von Rittenhouse.

Seit 2016 gibt es immer wieder Straßenkämpfe zwischen rechtsextremen Milizen und Antifaschisten. Während der Proteste gegen Polizeigewalt wurde daraus eine größere Bedrohung: Seit Mai seien Rechtsextreme 497mal bei Demonstrationen aufgetaucht, dokumentierte das Center for Analysis of the Radical Right. Dabei sei es zu 64 tätlichen Übergriffen und 38 Angriffen mit Autos gekommen, neunmal seien Schüsse abgegeben und drei Menschen getötet worden. Zahlreiche Fälle sind dokumentiert, bei denen Polizisten mit Milizionären oder rechtsextremen Gruppen gemeinsam agierten. Kürzlich analysierte der ehemalige FBI-Agent Michael German in einem umfangreichen Bericht Hunderte Fälle von Polizisten, die in rassistische und rechtsextreme Aktivitäten verwickelt waren. Seit Jahren ist rechtsextremer Terrorismus die größte Bedrohung für die innere Sicherheit der USA.

In Trumps Reden findet sich davon nichts. »Je näher wir der Wahl kommen und je mehr Trump die Angst vor den Protesten schürt und diese Leute mit seinem law and order-Zeug anheizt, desto schlimmer wird es werden«, sagte Heidi Beirich vom Global Project Against Hate and Extremism Ende August dem Online-Magazin Intercept. Erst am 25. August hatte ein Mann in Philadelphia in eine Menge von Demonstranten geschossen.

Trump präsentiert sich regelmäßig als der Kandidat der Ordnung und beruft sich dabei auf Traditionen der US-amerikanischen Rechten. »Ich glaube, Nixon hat verstanden, dass, wenn die Welt auseinanderfällt, die Menschen einen starken Anführer wollen, dessen höchste Priorität es ist, Amerika zuerst zu beschützen«, sagte Trump bereits 2016. Viele der law and order-Werbespots in diesem Sommer wirken wie Zitate von Richard Nixon. Der Republikaner gewann 1968 und erneut 1972 die Präsidentschaftswahlen, weil er die Stimmen der »schweigenden Mehrheit« der weißen Mittelschicht sammeln konnte, die genug von den liberalen Reformen und der kritischen Kultur der Sechziger hatte. Es war der reaktionäre backlash vor allem der weißen Voror­te gegen die Unruhen in US-amerikanischen Städten.

Das ist offenbar das Szenario, das sich Trump auch für den Herbst wünscht: Biden, so seine Hoffnung, werde mit dem Unterfangen scheitern, Unterstützung für die Proteste gegen Polizeigewalt zu zeigen und zugleich die Stimmen der konservativen Mittelschicht in den Vororten zu gewinnen. Immer wieder tönt Trump, dass er durch den Einsatz von Bundestruppen die Unruhen in den »demokratisch regierten Städten« beenden könne, wenn man ihn nur ließe. In Portland hatten Bundestruppen, unter anderem vom Department of Homeland Security, bereits Ende Juli operiert und auf der Straße verhaftete Demonstranten in unmarkierten Autos abtransportiert. Diese Taktik hatte die Proteste nur noch weiter angefacht, viele sahen darin eine weitere Eskalation des gesetzwidrigen Vorgehens des Polizeiapparats. In Kenosha kam nach den Todesschüssen der vorigen Woche die Nationalgarde zum Einsatz.

Am Sonntag gab es in Portland ein weiteres Todesopfer. In der größten Stadt des nordwestlich gelegenen Bundesstaats Oregon hatte es seit drei Jahren immer wieder Kämpfe zwischen der Antifa und organisierten rechten Gruppen gegeben, die das dabei produzierte Videomaterial für ihre Propaganda nutzten, es gebe eine außer Kontrolle geratene linke Gefahr. Am Wochenende rief eine Gruppe von Unterstützern Trumps dazu auf, in einer triumphalen Pickup-Kolonne in die Stadt einzufahren. Die Teilnehmer waren aufgefordert, sich zu bewaffnen. »Große Patrioten« nannte Trump die flaggenbewehrte Autokarawane. Spätere Videos zeigen Pickups durch die Innenstadt Portlands fahren, von denen Trump-Anhänger mit Paintballgewehren und Reizgas um sich schießen.

Spät am Abend fielen scharfe Schüsse. Ein Jay genannter Anhänger der Anti-Antifa-Gruppe Patriot Prayer, die eng mit Neonazis verbunden ist, war auf offener Straße erschossen worden. Noch ist über den Täter nichts bekannt, doch im Internet zirkuliert ein millionenfach angeklicktes Video, das eine Antifa-Gruppe zeigt, die in drastischen Worten von Selbstverteidigung spricht. »Rest in Peace, Jay!« twitterte der Präsident. Trumps Homeland Security forderte erneut, Truppen nach Portland entsenden zu dürfen. Rechte Gruppen kündigten neue Aufmärsche in Portland an: für ihren ge­töteten Kameraden Jay – und für den Schützen von Kenosha, Kyle Rittenhouse.