Am 75. Jahrestag der Befreiung stand in Italien das Wiedererstarken der faschistischen Ideologie nicht im Fokus

Gedenken mit Hindernissen

Des 75. Jahrestags der Befreiung vom Nazifaschismus wurde in Italien online oder auf den Balkonen gedacht. Das Wiedererstarken der faschistischen Ideologie stand nicht im Fokus.

Sergio Mattarella mit Mund-Nasen-Schutz allein vor dem Altar des Vaterlands – das Foto, das den italienischen Staatspräsidenten am Samstag bei der Kranzniederlegung am Nationaldenkmal in Rom zeigt, steht sinnbildlich für die abgesagten Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung Italiens vom Nazifaschismus. Zum ersten Mal seit Kriegsende gab es landesweit zum 25. April keine Zeremonie mit den Fahnen der Partisanendivisionen und keine antifaschistische Demonstration linker Parteien und Gewerkschaften. Infolge der Covid-19-Pandemie herrscht eine strikte Ausgangssperre. Italien wartet seit mehr als sieben Wochen auf die Befreiung aus dem lockdown.

Traditionell gedenkt das Land am 25. April der bewaffneten Aufstände, mit denen im Frühjahr 1945 die italienische Widerstandsbewegung die Befreiung Mailands erkämpfte und eine demokratische Konstitutionsphase einleitete, die 1948 mit dem Inkrafttreten der Verfassung ihren Abschluss fand. Dieses Jahr überwog stattdessen das nationale Pathos und die Rhetorik von den »Opfern«, die die Vorfahren bereit waren, für ein besseres Italien zu erbringen, als wäre die Resistenza kein Widerstandskampf, sondern eine Belastbarkeitsprobe gewesen.

Die Nationale Partisanenvereinigung ANPI hatte schon Anfang April dazu aufgerufen, das Versammlungsverbot einzuhalten. Man solle sich am Jahrestag der Befreiung damit begnügen, am eigenen Fenster oder Balkon eine Nationalflagge aufzuhängen und mit der Nachbarschaft »Bella Ciao« zu singen. Das Autorenkollektiv Wu Ming versuchte den Vorschlag als ironische Umkehrung zu deuten, habe man doch bisher am 25. April mit einem Fest auf der Straße die Niederlage des Duce gefeiert, der sich üblicherweise von einem mit der Trikolore geschmückten Balkon an seine faschistische Anhängerschaft wandte.

Auf Initiative mehrerer Tageszeitungen organisierte der linksliberale ­Kulturbetrieb unter dem Hashtag #iorestolibero (Ich bleibe frei) eine vir­tuelle Piazza. Verschiedene Online-Ausgaben boten Live-Schaltungen zu Wohnblocks in Mailand und Rom, deren Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam das Partisanenlied sangen. Theaterorchester fanden in Konferenzschaltungen zusammen, Schauspieler und Autorinnen meldeten sich aus ihren Wohnzimmern und lasen aus Erinnerungsliteratur. Das Fernsehen zeigte Interviews mit Frauen und Männern, die selbst noch in der Resistenza gekämpft oder Kurierdienste übernommen hatten.

Zwei Journalisten der Tageszeitung La Repubblica, Gad Lerner und Laura Gnocchi, haben in den vergangenen Monaten gemeinsam mit der ANPI mehr als 400 Partisaninnen und Partisanen befragt und deren Erinnerungen für den großen Jubiläumsjahrestag aufgezeichnet. Das Vorhaben, eine ­nationale Dokumentationsstätte für die italienische Widerstandsbewegung einzurichten, kommt allerdings für viele zu spät. Tausende aus der Generation der letzten Zeitzeugen sind in den vergangenen Wochen an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung verstorben.

Luciana Castellina, eine Mitgründerin der linken Tageszeitung »Il Manifesto«, sagte, die Partisanengruppen hätten nicht nur für die nationale Befreiung gekämpft, sondern für eine andere Gesellschaftsordnung.

Italiens Rechte bekämpft den Jahrestag der Befreiung schon seit Jahrzehnten im Namen einer »nationalen Versöhnung«: Aufgrund der eigenen Läuterung zum Postfaschismus bedürfe es des Antifaschismus nicht mehr. Diese sich postideologisch gebende Auffassung vertritt auch der Movimento 5 Stelle. »Die wahren Partisanen sind wir«, rief Beppe Grillo, der Gründer der Partei, schon vor mehr als zehn Jahren just am Jahrestag der Befreiung auf einer Kundgebung seinen Anhängern zu. Dass im Zeichen des »nationalen Leids« in diesem Jahr zum 25. April ohnehin fast nur noch die Trikolore und kaum noch eine rote Fahne wehte, war der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia (FdI) nicht genug. Sie versuchte, die norditalienische Coronatragödie für ihre eigene politische Umdeutung des 25. April zu nutzen. Der FdI-Politiker Ignazio La Russa, einst Verteidigungsminister in Silvio Berlusconis viertem Kabinett (2008–2011), forderte dazu auf, nicht mehr der Befreiung vom Nazifaschismus zu gedenken, sondern ­allen Italienerinnen und Italienern, die im Krieg oder in der Pandemie ihr ­Leben verloren haben. Hierzu sollte die Nationalflagge landesweit halbmast gehisst und statt »Bella Ciao« ein patriotisches Kampflied aus dem Ersten Weltkrieg angestimmt werden.

Mit diesem Vorschlag flankierte die parlamentarische Rechte die außerparlamentarischen faschistischen Gruppierungen, die in sozialen Medien die Kämpfer der Resistenza als »infame Mörder« beschimpften und aktive Antifaschistinnen und Antifaschisten mit dem Tod bedrohten. Der von Roberto Fiore, dem Vorsitzenden der neofaschistischen Partei Forza Nuova, angekündigte Aufmarsch zu einem »schwarzen 25. April« blieb zwar aus, jedoch wurden vergangene Woche in zahlreichen Städten Gedenktafeln mit Haken- und Keltenkreuzen beschmiert. Vor dem Stadion in Verona hissten Kameraden die Flagge der faschistischen ­Republik von Salò. Matteo Salvini verzichtete dagegen auf explizit revi­sionistische Propaganda und twitterte mit Bezug auf die Coronakrise und den von der Regierung bis in den Mai hinein verlängerten lockdown, es wäre nützlicher, wenn weniger gesungen und mehr gearbeitet würde.

Die virtuellen Veranstaltungen zum 25. April beschäftigten sich auch mit der Gegenwart. Allerdings stand dabei nicht das Wiedererstarken der faschis­tischen Ideologie im Fokus, sondern die Coronakrise. Die Präsidentin der ANPI, Carla Nespolo, die zur ersten Generation der Nachgeborenen gehört, betonte in Interviews, in diesem Jahr gehe es nicht nur um eine neue Form des Gedenkens an die Befreiung. Im Kampf gegen das Virus gelte es zugleich, eine gerechtere, sozialere und nachhaltigere Welt zu schaffen. Auf der Internetseite zum Hashtag #iorestolibero wurde daher auch ein Beitrag aus der italienischen »Fridays for Future«-Bewegung verlinkt.

Luciana Castellina, eine Mitgründerin der linksintellektuellen Tageszeitung Il Manifesto, beschwor den »Geist der Resistenza«. Die Partisanengruppen hätten nicht nur für die nationale Befreiung gekämpft, sondern für eine andere Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne rief Il Manifesto in seiner Ausgabe zum Jahrestag der Befreiung eine »Phase 25« aus. In kritisch-ironischer Distanzierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte, der am Wochenende eine »Phase 2« der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen angekündigt hatte, lädt die Zeitung Gastautoren und ihre Leserschaft ein, auf dem ­Online-Portal fiktive Ansprachen an die Nation zu posten. Gesucht wird ein Programm für die Befreiung aus einer gesellschaftspolitischen Misere, die das Virus nicht ausgelöst, aber verschlimmert hat.