Gedenkstätten erinnern an das Massaker der Wehrmacht im französischen Vercors

Widerstand im Gebirge

1944 verübte die Wehrmacht im französischen Vercors ein Massaker an Zivilbevölkerung und Partisanen. Eine Gedenkstätte erinnert an die Résistance in der Region, die bis heute als besonders rebellisch gilt.

Verirrt man sich als Reisende in die abgelegene und touristisch wenig erschlossene Region des Vercors am südöstlichen Rand der französischen Alpen, stößt man in fast jedem noch so kleinen Dorf auf Gedenkorte und Schauplätze der Résistance. In Deutschland nur wenigen bekannt, gilt die Gegend in ganz Frankreich als damals wie heute besonders rebellisch. Lokalhistorikerinnen und -historiker führen dies bis auf die Religionskriege im 16. Jahrhundert zurück. Derzeit nehmen verschiedene linke und ökologische Gruppen in der Region die widerständige Tradition für sich in Anspruch, von Gruppen zur Unterstützung von Geflüchteten über die Kurdistan-Solidarität bis hin zum Umweltschutz. Was im Einzelnen dahintersteckt, sei dahingestellt, un­bestritten ist jedoch die Bedeutung der Résistance in der Zeit der deutschen Besatzung. Im Vercors war eine der wichtigsten Gruppen des französischen Maquis, des Widerstands gegen die ­Nazis im Zweiten Weltkrieg, aktiv, die 1944 einen bewaffneten Aufstand or­ganisierte.

»Die Geschichte der Résistance und der Kämpfe gegen die Wehr­­macht ist im lokalen ­histori­schen Bewusstsein tief verankert.« Julien Guillon, Historiker

Das Dorf Vassieux-en-Vercors und seine am 21. Juli 1994, dem 50. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Vassieux, eröffnete Gedenkstätte Mémorial de la Résistance legen bis heute davon Zeugnis ab. Die Gedenkstätte wurde am ehemaligen Kommandoposten der maquisards, der Kämpferinnen und Kämpfer der Résistance, errichtet und ist diesem auf beeindruckende Weise auch architektonisch nachempfunden. In einer Höhe von etwa 1 300 Metern über dem Meeresspiegel, von allen Seiten mit Vegetation umgeben und bedeckt, hängt sie direkt an der Bergkante und scheint damit an das taktische Verhalten der Kämpferinnen und Kämpfer zu gemahnen: beobachten, verstecken und tarnen.

Die Besucherinnen und Besucher der Gedenkstätte werden über die einstigen Pfade der maquisards in die Ausstellungsräume geleitet. Der Rundgang endet mit dem weiten, aber auch beklemmenden Ausblick auf das Hochplateau des Vercors, auf das nach seiner völligen Zerstörung durch die Deutschen wiederaufgebaute Dorf und den Friedhof mit Hunderten von Gräbern. Es handelt sich um den einzigen Frankreichs, auf dem Kämpfer und Zivilisten gemeinsam begraben sind. Laut Julien Guillon, dem Historiker des Mémorial, kommt darin die enge Verbindung von Bewaffneten und Zivilisten zum Ausdruck: »Die Geschichte der Résistance und der Kämpfe gegen die Wehrmacht ist im lokalen historischen Bewusstsein tief verankert und spielt im Selbstverständnis der Menschen bis heute eine besondere Rolle.«

Jedes Jahr im Juli wird hier der Ereignisse des Jahres 1944 gedacht. Zur ­Unterstützung der am 6. Juni erfolgten Landung der Alliierten in der Normandie rief die französische Exilregierung aus London zu Sabotageakten und Angriffen auf die Wehrmacht auf. Die Führung der Résistance löste daraufhin den über viele Monate vorbereiteten »plan Montagnard« (Bergplan) aus. ­Innerhalb weniger Tage erreichten mehr als 3 000 bisher im Untergrund agierende Partisaninnen und Partisanen aus allen Teilen Frankreichs das Plateau, wo sie sich in Kampfeinheiten formierten. Zuvor hatten sich bereits kleinere Gruppen, versteckt in ­abgelegenen Gehöften, in dem Gebirgsmassiv aufgehalten und sich nach und nach in größeren und konzentrierteren Verbänden auf den offenen Aufstand vorbereitet. Es wurde sogar eine freie Republik ausgerufen.

Als die US-Armee in den folgenden Tagen verstärkt Kriegsmaterial abwarf und vage eine große Luftlandung im Rücken der Deutschen andeutete, schien die endgültige Befreiung unmittelbar bevorzustehen. In den umliegenden Dörfern und Kleinstädten hielt man in Erwartung des Sieges bereits Paraden ab. Doch statt der erwarteten Alliierten landeten am Morgen des 21. Juli die Flugzeuge der deutschen Luftwaffe auf dem Plateau. Deutsche Soldaten ermordeten mehr als 200 Zivilistinnen und Zivilisten und ungefähr 600 Partisaninnen und Partisanen. Auf die zweitägigen Kämpfe folgten zahlreiche Racheakte der Deutschen. Sie zerstörten unter anderem den Ort Chapelle-en-Vercors vollständig, die Verwundeten und das Personal des in der Grotte de la Luire versteckten Lazaretts wurden getötet oder in Konzentrations­lager deportiert.

Guillon arbeitet seit einem halben Jahr am Mémorial. Sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die Rolle und Bedeutung der Frauen in der Résistance. In einer geplanten Buchveröffentlichung möchte er herausstellen, dass sie nicht nur als bewaffnete Kämpferinnen wichtig waren, sondern dass vielmehr die Résistance ohne die Infrastruktur, die maßgeblich Frauen unter anderem durch Kuriergänge sowie das Verstecken und Versorgen von Verwundeten unterhielten, nicht möglich gewesen wäre und der Beitrag der Frauen stärker gewürdigt werden sollte. Immer noch werden Dokumente in Kellern und Dachböden entdeckt, die historisch eingeordnet und archiviert werden. Guillon, dessen Urgroßvater im Konzentrationslager Mauthausen ermordet wurde, sieht seine Arbeit auch als sein persönliches engagement ci­toyen (gesellschaftliches Engagement).

Auch in Frankreich verändern sich, unter anderem weil es immer weniger Zeitzeuginnen und -zeugen gibt, die Bedingungen der Erinnerung und des Gedenkens. Deswegen ist Guillon mit der Entwicklung neuer museumspädagogischer Konzepte und Projekte betraut. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in Institutionen im Département Auvergne-Rhône-Alpes und an Gedenkstätten auch außerhalb Frankreichs, vor allem in Deutschland, sollen in Zukunft mehr Raum einnehmen. Auf lokaler Ebene werde seiner Ansicht nach außerdem die Beschäftigung mit der Kollaboration und den begangenen Verbrechen lokaler Milizen an Bedeutung gewinnen. Bisher sei eine solche Auseinandersetzung, zumal in einer dörflich-ländlich geprägten Region wie dem Vercors, in der die Familien der Opfer und der Täter häufig Tür an Tür leben, noch nicht möglich gewesen.

Im Jahr 1944 und danach waren Trauer und Verbitterung über die Nieder­lage groß. In einem Telegramm warf einer der Anführer des Aufstands, Eugène Chavant, der Gründer der Widerstandsorganisation France Combat, den alliierten Streitkräften »Feigheit und Verrat« vor.

Die Aufständischen seien erst ermutigt und dann im Stich gelassen und den Deutschen geopfert worden. Mithin treffe die Alliierten und die französische Exilregierung eine Mitschuld. Diese These prägte noch das Gedenken in der Nachkriegszeit. In der Tat hatte die Exilregierung Charles de Gaulles gefordert, alle Kräfte des ­Widerstands in Frankreich zu mobilisieren, um die Landung der Alliierten in der Normandie zu unterstützen. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass es nie verbindliche Pläne oder konkrete Versprechen für eine großangelegte Unterstützung mit Luftlandetruppen, sondern allenfalls Andeutungen in diese Richtung gab. Eine eindeutige historische Bewertung der tragischen Missverständnisse gibt es bis heute nicht.

Dennoch hat der Aufstand unbestreitbar dazu beigetragen, die deutsche Herrschaft zu erschüttern. In mehreren benachbarten Départements gelang es der Résistance in den folgenden Wochen, Städte und Dörfer fast vollständig von deutschen Besatzungstruppen zu befreien, so zum Beispiel die Stadt Annecy. Auch das Gelingen der Landung der Alliierten in der Provence am 15. August 1944 hatte der Aufstand mit ermöglicht. Am 21. August wurde die Wehrmacht endgültig zum Rückzug gezwungen.

Die Ermordung der Menschen und die Zerstörung der Orte im Vercors waren Kriegsverbrechen. Aber wie in vielen anderen bekannten Fällen wurden auch in diesem die verantwortlichen Wehrmachtsoffiziere entweder gar nicht erst verurteilt oder sie kamen nach kurzen Gefängnisaufenthalten schnell wieder frei. Der für die Massaker an der Zivilbevölkerung und die Zerstörung Vassieux’ direkt verantwortliche Oberleutnant Friedrich Schäfer wurde für seinen Einsatz im Oktober 1944 mit dem Ritterkreuz dekoriert. Den Oberbefehlshaber der Aktion, General Karl Pflaum, entließ man nach wenigen Jahren aus gesundheitlichen Gründen aus der ­Untersuchungshaft. In der oberbayerischen Stadt Neuötting wurde 1973 eine Straße zu seinen Ehren benannt. Sie trägt bis heute seinen Namen. Die Gedenkorte werden auch in der Zukunft verhindern, dass Reisende das Vercors nur als schöne Landschaft wahrnehmen.