Ganz Italien wird zur »Roten Zone«

Italien macht dicht

Das Coronavirus hat in Italien eine nationale Krise ausgelöst. Der Ausnahmezustand betrifft nicht mehr nur die Kommunen im Norden, das ganze Land wurde zur Sperrzone erklärt.

Am Montagabend verkündete der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte die Aufhebung der »roten Zone« in Norditalien. Das ganze Land werde zur Schutzzone. Das entsprechende Notfalldekret ist seit Dienstag in Kraft. Die Ausweitung der Sperrmaßnahmen bedeutet die Einschränkung der Bewegungsfreiheit aller italienischen Bürgerinnen und Bürger. Reisen darf nur, wer »triftige Gründe« wie Arbeit oder gesundheitliche Notfälle nachweisen kann und eine ausgefüllte Selbstauskunft mit sich trägt. Versammlungen sind untersagt, alle Menschen sind dazu angehalten, zu Hause zu bleiben, für jegliche Art der Interaktion gilt die Regel: mindestens einen Meter Abstand halten. Das betrifft das gesamte öffentliche Leben – inklusive Bars und Restaurants, die nur bis 18 Uhr geöffnet bleiben dürfen.

Die Entscheidung, landesweit sämtliche Schulen und Universitäten für zehn Tage zu schließen, war in der Woche zuvor bereits eine erste Verschärfung im Kampf gegen die Verbreitung des Virus. In der Nacht zum vergangenen Sonntag waren dann per Notfalldekret zunächst die gesamte Lombardei sowie Teile der Regionen Venetien, Piemont, Emilia-Romagna und Marche zu Sperrgebieten erklärt worden.

Die Stadt Florenz schlug freien Eintritt in ihre Stadtmuseen vor, um ängstliche Besucher zu ermutigen.

Der nationale lockdown ist ein Wende­punkt in der Bekämpfung der Verbreitung des Virus, von dem Italien europaweit weiterhin am schwersten betroffen ist. Als sich am 21. und 22. Februar in der südlich von Mailand liegenden Provinz Lodi Infektionen häuften, die miteinander zusammenhängen, entschieden sich die regionalen Behörden sofort für das »Modell Wuhan«: Eine erste »rote Zone« wurde abgeriegelt, zunächst waren rund 50 000 Menschen betroffen. Während seit dem ersten bestätigten Fall in der Kleinstadt Codogno die Infektionszahlen nahezu stündlich stiegen, versetzte sich das Land innerhalb kürzester Zeit in den Ausnahmezustand – in jeder Hinsicht: gesundheitlich, politisch und psychologisch. Dabei erschreckten zunächst die hohen Fallzahlen, die darauf zurückzuführen sind, dass in der ersten Woche alle Kontaktpersonen der nachweislich Infizierten sofort getestet wurden, selbst wenn sie keine Symptome zeigten. Eine Vorgehensweise, die von einigen Experten kritisiert wurde, da sie sehr hohe Zahlen produzierte, die der Öffentlichkeit oft ohne nähere Erklärung präsentiert wurden und zu großer Beunruhigung führten. Die Massentests halfen jedoch, den Ursprung des Virus zu identifizieren und weitgehend zu isolieren. Denn obwohl sich das ­Virus mittlerweile in mehreren italienischen Regionen ausgebreitet hat, bleibt der größte Infektionsherd die Region südlich von Mailand mit bei ­Redaktionsschluss am Dienstag über 3 400 Fällen von landesweit rund 5 800. (Hier finden sich die aktuellen Zahlen)

Bereits in dieser frühen Phase stellte sich die Frage, wie transparent Behörden kommunizieren sollen. Ein Dilemma: Wie kann man die Bürgerinnen und Bürger mit korrekten Informationen versorgen, ohne dass irrationale Ängste überhandnehmen?

Dass die allgemeine Verunsicherung immer größer wurde, war in einer ­Situation, in der sich Nachrichten über weitere Maßnahmen, divergierende Expertenmeinungen und politische Vorwürfe überschlugen, kaum zu vermeiden. Regionalpräsidenten und Bürgermeister agierten quer durch Italien unkoordiniert, was zu absurden Situationen führte. In der Emilia-Romagna, der am zweitstärksten betroffenen Region, wo manche Gegenden direkt an die lombardische »rote Zone« grenzen, ging das Leben ohne besondere Einschränkungen weiter. Regionalpräsidenten von zwei südlichen Regionen, in denen keine Fälle bestätigt waren, wollten indessen die Schulen präventiv schließen. Die Stadt Florenz dagegen schlug freien Eintritt in ihre Stadt­museen vor, um ängstliche Besucher zu ermutigen.

Doch Regionen abzuriegeln, die fast ein Drittel der italienischen Wirtschaftsleistung produzieren, würde das Land in eine Rezession stürzen. Als das immer deutlicher wurde, änderte sich die Sichtweise der Coronakrise kurzzeitig. Die Maßnahmen blieben in all ihrer Widersprüchlichkeit gültig, begleitet wurden sie aber immer mehr von ­einer beschwichtigenden Haltung – man solle ruhig und vorsichtig bleiben. Von da an wurde neben den Angaben über Neuinfektionen und Todesfälle stets die Zahl der Genesenen genannt.

Man bemühte sich um Deeskalation, denn wo bereits die Angst vor einer ­Infektion herrschte, begannen konkrete Existenzsorgen die Bevölkerung zu belasten. Immer lauter wurde die Kritik an der Regierung. Matteo Salvini, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Lega, wirft der Regierung vor, mit übertriebenen Maßnahmen die italienische Wirtschaft zu zerstören. Salvini fordert nun den Rücktritt von Ministerpräsident Giuseppe Conte, als würde dies die Infektionsketten unterbrechen. Das größte Problem für das Krisen­management der italienischen Regierung ist allerdings nicht Salvini, sondern die eigene Glaubwürdigkeit. Eine Rücknahme der Maßnahmen nach nur einer Woche sähe aus wie das Eingeständnis eines Fehlers.

Es wurde immer wieder in Frage gestellt, dass das Virus lebensgefährlich ist. Politik und Medien versuchten, die Menschen zu beruhigen – allerdings ohne großen Erfolg, denn die Zahl der Infizierten und mit ihr auch die der ­Todesfälle stieg weiter. Gleichzeitig bestätigten Virologen die Wirksamkeit der Quarantänemaßnahmen: Die ­Einrichtung der »roten Zonen« und das Absagen von Veranstaltungen ­seien keineswegs überzogen. Im Gegenteil, sie seien der richtige Weg, um die Verbreitung des Virus zu verlang­samen.

Die wirklich große Gefahr für Italien besteht im Zusammenbruch des ­maroden Gesundheitssystems. Wenn die Anzahl der Intensivpatienten ­weiter in dem Maße wie bisher steigt, käme das für die südlichen Regionen Italiens einer Katastrophe gleich. Solange es weder wirksame Medikamente noch eine Impfung gegen Covid-19 gibt, bleibt die Reduzierung der sozialen Kontakte der wirksamste Schutz. Diese pragmatische Botschaft schien bis Mitte vergangener Woche bei ­einem Großteil der Bevölkerung angekommen zu sein. Die landesweite Schließung der Schulen wurde als schmerzhafter, aber notwendiger Schritt akzeptiert. Doch am Samstag, als die Pläne der Regierung, weite ­Teile Norditaliens abzuriegeln, in den Medien durchsickerten, setzte Panik ein: Wer konnte, versuchte, den Norden zu verlassen, mit dem Auto und in überfüllten Zügen.

Die Coronakrise überfordert bereits jetzt einige Krankenhäuser Nord­italiens, wie Ärzte und Krankenhauspersonal in den letzten Tagen immer wieder in den sozialen Medien berichteten. Daniele Macchini, der in einem Krankenhaus in Bergamo Patienten in der Intensivstation behandelt, bezeichnet die Situation als dramatisch. »Mir fallen keine anderen Worte ein. Wir haben Krieg und kämpfen Tag und Nacht ohne Pause. Während in den sozialen Medien Menschen (…) sich darüber beschweren, dass ihre Lebens­gewohnheiten vorübergehend eingeschränkt werden, findet eine epidemiologische Katastrophe statt. Es gibt keine Chirurgen, Urologen oder ­Orthopäden mehr, wir sind nur noch Ärzte, die plötzlich Teil eines einzigen Teams geworden sind (…) Die Fälle häufen sich, wir kommen auf 15 bis 20 pro Tag (…) Die Notaufnahme bricht zusammen.«

Angesichts dieser Situation wirken Kommentare von Intellektuellen wie dem Philosophen Giorgio Agamben befremdlich. Dieser schreibt in einem Artikel im Il Manifesto von »verzweifelten, irrationalen und völlig ungerechtfertigten Notstandsmaßnahmen gegen eine angebliche ­Epidemie«. Die »Erfindung einer Epidemie«, so Agamben, biete, ähnlich wie der Terrorismus, »den idealen Vorwand«, um Notstandsgesetze durchzusetzen und die Gesellschaft zu disziplinieren. Der Philosoph geht zwar nicht so weit, einen Plan hinter der Verbreitung des Virus zu vermuten, sehr weit vom Verschwörungsglauben liegt dieses in der ­Linken verbreitete Deutungsmuster – Staatsmacht gegen Freiheit der Bürgerinnen und Bürger – jedoch nicht.

Wer das Coronavirus für eine mediale Epidemie hält, trägt indirekt zu der epidemiologischen Katastrophe bei, von der Macchini spricht. Denn so richtig manche Kritik an der Coronapanik sein mag – sie darf nicht dazu führen, auf eine Sensibilisierung der Bevölkerung für angemessenes Ver­halten zu pfeifen. »Ein verbreitetes Framing, aber völlig daneben ist es, entsprechende Warnungen als Panikmache zu diffamieren«, schreibt der Physiker Alexander Unzicker im Online-Magazin Telepolis. »Die Gefahr muss aber – in sachlicher Weise – in die Köpfe.« Mittlerweile gilt das nicht nur für Italien, sondern für ganz Europa.

 

Aktualisierung am 12. März 2020: Ministerpräsident Giuseppe Conte ordnete am Dienstagabend (11. März) eine weitere Verschärfung der Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus an. Alle nicht notwendigen Geschäftsaktivitäten müssten fortan eingestellt werden: Alle Bars und Restaurants sowie fast alle Geschäfte sollen geschlossen bleiben, nur Lebensmittelläden und Apotheken seien weiter geöffnet. Unternehmensabteilungen, die nicht für die Produktion unverzichtbar seien, müssten schließen.