Gespräch mit dem ungarischen Philosoph G. M. Tamás über die autoritäre Formierung in Ost und West

»Die Gleichheit erscheint als elitär«

Interview Von

Welchen Unterschied gibt es zwischen West- und Osteuropa in der Behandlung der sogenannten Flüchtlingsfrage?

Ein Aspekt der Flüchtlingsfrage wird oft ignoriert: Es besteht eine Konkurrenz um westliche Arbeitsplätze zwischen Osteuropäern und Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten. Das ist nicht der einzige Grund, aber einer der Gründe, warum die osteuropäischen Staaten gegen die Migration aus dem Nahen Osten, Afrika und Zentral­asien sind: Sie wollen diese westlichen Arbeitsplätze für ihre eigenen Bürger; schicken diese keine Euros an ihre Familien im Osten, drohen dort die Sozialsysteme zu kollabieren. Die osteuropäischen Staaten sehen darin die ein­zige Lösung für die tiefe Krise Osteuropas. Wenn die »Kohäsionsfonds«, also die Bestechungsgelder der EU, nicht fließen und Millionen von Osteuropäern nicht in Westeuropa arbeiten können, dann könnten die osteuropäischen Staaten genauso gut »business closed«-Schilder an ihre Türen hängen.

Der zweite Grund ist bekannter und leichter zu verstehen: Rassismus. Ein Rassismus, der sich heutzutage mit dem vermischt, was man als »Kulturalismus« bezeichnen könnte, sichtbar im Diskurs der Rechten überall im Westen, aber auch in den osteuropäischen Ländern. Demnach sind die Kulturen ebenso starr wie »rassische« Merkmale, die biologisch und genetisch vererbt werden.

Verbunden mit diesem Kulturalismus ist das Phantasma, das in Osteuropa unter »Verbreitung von Homosexualität« firmiert; es wird als das Ergebnis politischer Indoktrination angesehen. Man spricht von »homosexueller Propaganda«, in Ungarn wird diese Idee mit der Vorstellung eines »westlichen liberalen Angriffs auf unsere angestammte Kultur« kombiniert, die natürlich niemand definieren kann.

In Ihrem Text »On Post-Fascism« aus dem Jahr 2000 beschreiben Sie, wie die postfaschistische Tendenz »ihre Nische in der neuen Welt des globalen Kapitalismus« finde. 20 Jahre später scheinen Ihre Beschreibungen auf eine ganze Reihe von Regierungen zu passen: von Ungarn über die Türkei bis Russland, von den USA bis Indien. Wie bewerten Sie Ihre damalige Prognose heute?

Ich denke, dass dieser Aufsatz im Wesentlichen richtig war, auch wenn sich einige Merkmale dieser Tendenz seither verschärft haben. Schon damals war es klar, dass totalitärer Terror und Massengewalt – Merkmale des klassischen Nationalsozialismus und Faschismus – weitgehend fehlen. Sie fehlen vor allem deshalb, weil die Hauptaufgabe des Faschismus – die Zerstörung des Sozialismus – erfüllt ist. Es gibt in Europa keinen Sozialismus mehr, auch nicht in der sehr unvollkommenen staatskapitalistischen Version, die im ehemaligen Sowjetblock verwirklicht wurde. Die Faschisten wissen und wussten immer, dass ihre wesentliche Aufgabe darin bestand, den europäischen – insbesondere deutschen und italienischen – Sozialismus zu verhindern.

Hitler sah die Juden als die wesentlichen Verbündeten – nach seiner Auffassung die wahren Führer – der kommunistischen Revolution, ohne die das Proletariat keinen »Geist« und keine Vernunft hätte. Auch aus diesem Grund mussten die europäischen Juden sterben. Das heutige Europa ist weitgehend eine Schöpfung des Faschismus im negativen Sinne. Die Nieder­lage des italienischen, deutschen, österreichischen und spanischen Proletariats ist eine dauerhafte, wir werden noch lange leben mit ihr müssen. Aber indem wir die Niederlage anerkennen, können wir auch den Hauptfeind identifizieren, der im Wesentlichen derselbe ist.

Dennoch bleibt eine wichtige politische Methode des Faschismus bestehen: Es geht darum, die Staatsbürgerschaft in ein nichtuniversales Privileg nach völkischen Kriterien zu verwandeln, statt sie als eine universelle Bedingung für alle Menschen zu regeln, wie es die Aufklärung, der Sozialismus und, auf nichtpolitische Weise, das Christentum versteht. Der Bruch mit dieser so wichtigen Tradition durch den Faschismus war radikal.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, und insbesondere nach 1989, mit der Eindämmung und dann der Niederlage des Sozialismus, schien die Welt des liberalen Kapitalismus in der Lage zu sein, Privateigentum und Ausbeutung auf der einen Seite und Gleichheit und Bürgerrechte auf der anderen Seite zu vereinen. Der Konflikt zwischen beidem wurde durch die Abwesenheit des politischen Sozialismus verdeckt, der immer auf die Unmöglichkeit einer solchen Einheit hingewiesen hatte.

Aber Kritik an einer autoritären Formierung des Kapitalismus gab es bereits früher.

Marx hatte dies bereits bei Napoleon III. in seinem »18. Brumaire« entdeckt. In dem Text schrieb er 1852, es bestehe die Möglichkeit, dass der Kapitalismus nicht durch die Bourgeoisie gerettet wird, die den Klassenkampf gewinnt, was nahezu unmöglich sei, sondern durch eine dritte Kraft – den Staat, der militant, aktivistisch und offen unterdrückerisch gemacht wird, was gegen alle traditionellen Weisheiten des Liberalismus und der Demokratie verstößt – und dem es sogar gelingen könnte, Teile der Arbeiterklasse zu mobilisieren, wie es Louis Napoléon ­Bonaparte tat und wie es später der Faschismus tat und bis heute tut.

Der Bonapartismus war ein Vorläufer des Faschismus und des Nationalsozi­alismus, und in gewisser Weise wiederholt sich dessen Geschichte. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Heterosexismus mobilisieren wichtige Teile der Bevölkerung, die sich mit einer Staatlichkeit verbünden, die die Repression legitimiert und ausübt – ohne wesentliche politische Kompromisse mit der liberalen Bourgeoisie einzu­gehen, was nicht mehr als notwendig erachtet wird. Solange das Privateigentum erhalten bleibt, funktioniert der Kapitalismus halbwegs, und die anderen Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft werden nicht erfüllt. Ob das den Kapitalismus wirklich ­retten kann, bleibt abzuwarten. Das ist möglich, aber keineswegs sicher.

Die letzten Revolutionsversuche liegen lange zurück. Was bedeutet das für die heutige Zeit?

Die Bedrohung durch ein revolutionäres Proletariat besteht nicht mehr. Die sich autoritär formierenden Staaten hoffen heute, dass sie mit rassistischer Mobilisierung ohne soziale Reformen zugunsten der Arbeiterklasse durchkommen, die politisch entwaffnet ist und sich gegen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wendet statt gegen diejenigen, die den Arbeitsmarkt zu dem machen, was er ist: die Kapitalisten.

Es gibt einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt, zwischen Einheimischen und Einwanderern, zwischen Minderheiten und zwischen Generationen. Es existiert eine sehr fragmentierte soziale Realität. Und diese nutzen die postfaschistischen Regierungen und Bewegungen aus, um jedes emanzipatorische Projekt als Gefahr für Menschen in einer prekären Situation auf dem Arbeitsmarkt darzustellen.

Der Postfaschismus suggeriert, dass die »globalistischen Eliten«, die Überbleibsel der Linken und einige Liberale die sozialen Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung igno­rieren; die Idee der Gleichheit erscheint so zum ersten Mal in der Geschichte – und paradoxerweise – als elitäre Idee. Dass die Gleichheit als elitär erscheint, ist verrückt, aber so wird sie von der Wählerschaft der postfaschistischen Bewegungen wahrgenommen.

Was bedeutet diese Verkehrung für gesellschaftliche Emanzipations­bestrebungen?

Die extreme Rechte verwandelt den politischen Klassenkampf in ethnische, politische und kulturelle Diskriminierung, zur angeblichen Rettung der einfachen Menschen vor dem Ansturm geheimnisvoller Kräfte, die stets als »fremd« – in Hinblick auf Ethnizität oder Geschlecht – und elitär empfunden werden. Überraschenderweise sieht das auch die Linke immer öfter in diesem Licht. Wenn Linke heutzutage sagen, man solle nicht elitär sein, dann bedeutet das, dass man dem Ethnizismus, der Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus der Rechten nachgeben sollte, weil dies die echten Gefühle der arbeitenden Menschen zu sein scheinen.

In diesem Fall würde ich eher mit Lenin und Lukács, die normalerweise nicht meine Helden sind, sympathisieren – darin, dass das empirische Bewusstsein der Arbeiterklasse, das, was Lenin als »trade-unionistisches Bewusstsein« bezeichnete, nicht ausreicht, um eine wirkliche Linke zu schaffen. Es gibt auch philosophische und moralische sowie wirtschaftliche und politische Prinzipien, die Lukács für das wirkliche Bewusstsein des Proletariats hielt, die sich aber in der empirischen Gruppenpsychologie der armen und unterdrückten Gruppen nicht spiegeln.

Was halten Sie vom Linkspopulismus, der sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat?

Was heutzutage als linker Populismus oder linker Nationalismus bezeichnet wird, ist ein Spiegelbild dieser paradoxen Situation, in der die Linke nicht mehr beschuldigt wird, den ungewaschenen, unkultivierten, vulgären Arbeitern die Vormachtstellung zuschanzen zu wollen. Das war der Vorwurf der Rechten an die linken Intellektuellen in den zehner und zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Jetzt wird ihnen das Gegenteil vorgeworfen. Die Linke wird beschuldigt, den Kontakt zu diesen Massen verloren zu haben, zu genau den Massen, die die Rechte in der Vergangenheit so sehr verachtet hat.
Viele Linke meinen, einen globalistisch-kosmopolitischen Neoliberalismus zu bekämpfen, der kaum mehr existiert. In der Geschichte des Kapitalismus gab es immer mal protektionistische, mal freihändlerische Wellen, derzeit schlägt das Pendel in Richtung Protektionismus aus. Etatismus, Militarismus, Widerstand gegen das internationale Recht und internationale Institutionen: Das sind die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.

Wie wird das in der sogenannten ­illiberalen Demokratie von Viktor Orbán in Ungarn benutzt?

Orbán war auf der Suche nach einer Ideologie, als er die Macht übernahm. Für ihn als ehemaligen Liberalen war klar, dass er die Macht nicht ohne eine Ideologie und nicht zusammen mit den liberalen Intellektuellen erobern kann. So entdeckte er, zunächst ganz mechanisch, auf eine kalte Art und Weise, dass der einzige Platz für ihn auf der Rechten war. Und er bewegte sich nach rechts. Am Anfang, in den neun­ziger Jahren, war das ein Resultat kalter Berechnung.

Zwei Dinge waren für die Machtübernahme entscheidend: zum einen eine Verbindung zur Tradition der ungarischen Rechten. Sie schlossen einen Pakt mit dem alten Bürgertum, das sich nach den Vorkriegsregimes und dem alten Nationalismus sehnte. Zum zweiten entdeckten sie die antiliberale Rechte im Westen, die der heutigen Alt-Right ähnelt. Zuerst gab es eine klassische Vermutung: Ein »Übermaß« an Menschenrechten in Ungarn begünstigte die »gefährlichen Klassen«. Gemeint war damit die Roma-Minderheit, die mehr gehasst wurde als Araber oder Afrikaner. In Umfragen mit Fragen wie »Wen würden Sie als Nachbarn akzeptieren?« stehen die Roma, die seit 600 Jahren in Ungarn leben, am Ende der Liste, noch hinter Juden, Muslimen und queer people. Da die Roma jedoch oft erwerbslos und damit keine wirklichen Konkurrenten auf dem ­Arbeitsmarkt sind, hatte dies nur begrenzte mobilisierende Kraft und war nur in einigen Teilen des Landes erfolgreich.

Wie änderte sich das?

Dann kam die sogenannte Flüchtlingskrise und beschleunigte die autoritäre Formierung. Das Terrain war bereits vorbereitet: Die meisten bürgerlichen Freiheiten waren seit 2011 durch verschiedene Verfassungsänderungen eingeschränkt worden, die relative Autonomie verschiedener Institutionen im Staat war bereits reduziert. Das Verfassungsgericht, das gesamte Justizsystem, die Kommunalverwaltungen waren in ihren Befugnissen eingeschränkt oder hatten sie verloren, und das galt in der Folge auch für die Me­dien, die Universitäten, die Kunstwelt, die Museen, was auch immer.

Welche Perspektiven sehen Sie für Osteuropa?

Die altmodischen Reaktionäre, die in den achtziger Jahren sagten, dass es in Osteuropa und Asien, vor allem im ehemaligen »sozialistischen Block«, keine bürgerliche Gesellschaft west­lichen Stils geben könne, haben recht behalten. Der liberale Konstitutionalismus in Westeuropa – wie unvollkommen und trügerisch er manchmal auch sein mag – war eine Reaktion auf den Faschismus. Diese Transformation in Westeuropa wurde von den Vereinigten Staaten und Großbritannien garantiert, die sich nun von Europa abwenden und in denen der Einfluss der extremen Rechten ständig wächst.

Die Osteuropäer sind die Erben eines geplanten, umverteilenden, egalitären Staatskapitalismus (oder »Staatssozialismus«) sowjetischen Stils. Das war eine seltsame Kombination aus emanzipatorischen und repressiven Zügen. Das Emanzipatorische vom Repressiven zu trennen, sollte die Aufgabe der osteuropäischen Linken sein.


Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Beier