Moses Boyd zeigt sich auf dem Album »Dark Matter« als Prophet hybrider Sounds

Auf Biegen und Brechen

Schlängelnde Glockenklänge, auf- und abflauende Crash-Anschläge gesellen sich dazu, dann lang gehaltene Akkorde auf dem Tenorsaxophon. Moses Boyd lässt sich auf dem Eröffnungsstück seiner neuen Platte »Dark Matter« ausgiebig Zeit, um in seine Klangwelt einzuführen. »Stranger Than Fiction« heißt diese Nummer und erste Auskopplung, die unmittelbar da ansetzt, wo sein Debütalbum »Displaced ­Diaspora« aufgehört hatte.

Man erkennt recht schnell, warum Boyd zu den derzeit wichtigsten Musikern der florierenden Londoner Jazzszene gezählt wird. Aufgewachsen im Süden der Stadt, mit den Alben von Miles Davis und Dizzee Rascal im Ohr, irgendwo zwischen den typischen englischen Jazzclubs und den Sounds aus den Tanzclubs der britischen Hauptstadt, verschmelzen in seinen Kompositionen die Sounds und Szenen: Jazz, HipHop, Grime, Dub und Afro-Beat.

Boyd geht es nicht um einen Bruch mit der englischen Jazztradition, sondern um eine Modernisierung des Sounds. Im Englischen nennt man das auch gerne »genre-bending«. Ihm geht es um das Abbilden des Reichtums seiner Einflüsse. Er untersuchte auf seinem Debütalbum die verschiedenen Musikszenen Londons und benutzte sie allesamt. So entstand mit seiner Band Exodus (bestehend aus Binker Golding, Dylan Jones, Artie Zaitz und Theon Cross) und einer Vielzahl an weiteren Kooperationspartnern (etwa die formidable Saxophonistin Nubya Garcia) eine Bestandsaufnahme der musikalischen Vielfalt der britischen Hauptstadt. Szenen, die getrennt voneinander agierten, mussten durch die »Londonisierung« der Musikszene (Schließungen von Konzertorten sowie fehlende Selbstverwaltung) langsam aber sicher zusammenrücken, um die wenigen verbliebenen Orte gemeinsam zu bespielen.

Es entstand ganz nebenbei – und selbstverständlich ganz im Sinne des Drummers und Produzenten Boyd – ein Kommentar zur britischen Gesellschaft, die bis heute zum Teil nicht mit ihrem (post-)kolonialen Erbe umzugehen weiß. Als Antwort kam »Displaced Diaspora«, das hörbar machte, was einer ganzen Generation von Musikerinnen und Musikern am Herz liegt: die Synthetisierung verschiedener Musikkulturen.

Das neue Album »Dark Matter« legt den Finger nun wieder in die gleiche Wunde. In Großbritannien ist man stolz auf die neue Jazzszene, sie ist zum Aushängeschild geworden. Doch Musiker wie Boyd fühlen sich darin nicht zu Unrecht bloß wie das Besondere im Eigentlichen. Der Euphorie setzt er etwas Dunkles entgegen: zehn unheimlich kraftvolle moderne Jazznummern, die wieder von Dubstep und HipHop beeinflusst sind. Die Posaune von Theon Cross gibt mit tiefen Bassakkorden den schmutzigen Ton vor, während Boyd komplexe Schlagzeugmuster spielt und Golding den Raum mit seinem Saxophon öffnet. »2 Far Gone« (aufgenommen mit dem Keyboarder Joe Armon-Jones) verknüpft feingeistig die Drumsettings solcher Produzenten wie Four Tet mit lieblichen Improvisationen am Klavier. Hier entsteht Spannung zwischen der feinen Klangfarbe des Tasteninstruments und den schroffen Beats.

Ähnlich schroff ist auch die Noise-Nummer »Only You«, bei der Sprachsamples in ein Nest aus treibenden und markerschütternden Bass-Synth-Klängen gebettet sind. Moses Boyd zeigt auch auf seinem Zweitling, dass er nicht gewillt ist, ruhig zu bleiben und einfach nur Jazz zu spielen.

Moses Boyd: Dark Matter (Exodus Records)