Die Résistance im französischen Skiort Val d’Isère versteckte Juden

Résistance auf Skiern

Im Skiort Val d’Isère gab es zur Zeit der deutschen Besatzung eine Widerstandsgruppe, Jüdinnen und Juden wurden vor den Nazis versteckt. Das wurde kürzlich durch einen Bericht der britischen BBC bekannt.

Auf etwa 1 800 Metern Höhe gelegen, die Bauten traditionell mit viel Holz errichtet, die Region auch in Zeiten der Klimakrise schneesicher: In Val d’Isère, einem ehemals verschlafenen französischen Bergdorf nahe der ­italienischen Grenze, trifft sich seit Jahrzehnten die internationale Elite des Wintersports.

Als die BBC-Reporterin versuchte, mehr über das Vorgehen der Résistance und die geretteten Juden herauszufinden, stieß sie im Dorf größtenteils auf Schweigen.

Der Skirennläufer und dreifache Olympiasieger Jean-Claude Killy ist in dem Ort aufgewachsen, die Olympiasiegerinnen Christine und Mari­elle Goitschel sind für den ­Verein Club des Sports Val d’Isère ange­treten, ebenso wie der fünf­fache Snowboard-Weltmeister Mathieu Bozzetto. Wenn man Val d’Isère nicht wegen dieser Größen kennt, deren Erfolge schon einige Jahrzehnte zurückliegen, dann als elitäres Ski­resort mit eigenem Skirennen und der berüchtigten schwarzen Piste ­namens La face de Bellevarde oder als gelegentliches Etappenziel bei der Tour de France.

Wenig bekannt aber ist ein Detail der Ortsgeschichte, über das kürzlich die BBC berichtete. Zu Zeiten der deutschen Besatzung war Val d’Isère ein Schwerpunkt der französischen Résistance. Deren Tätigkeit hier hatte, zumindest mittelbar, mit dem Skifahren zu tun. Und der ortsansässige Arzt versteckte, wie kürzlich bekannt wurde, unter Lebensgefahr eine junge Jüdin. Aber nicht alle im Dorf erinnern sich gern an diese Zeit.

Sie sei im Dezember 1943 mit ihrer Schwester Marion nach Val d’Isère gekommen, erinnert sich die 92jährige Huguette Müller im Gespräch mit der BBC. Die beiden Geschwister, die ursprünglich aus Berlin stammten, hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine gefährliche Flucht hinter sich. 1933, kurz nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, waren die weitsichtigen Eltern mit den beiden Töchtern nach Frankreich ge­flohen. Marion hatte falsche Papiere; die getaufte Huguette lebte unter ­ihrem echten Namen, doch weil auf den Papieren als Geburtsort Berlin stand, war auch sie seit der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 in Gefahr.

Die Mutter der beiden wurde 1943 in Nizza verhaftet, wie die Geschwister nach Kriegsende erfuhren, und in Auschwitz ermordet. Huguette floh daraufhin zu ihrer Schwester Marion nach Lyon, doch auch dort waren sie nicht mehr sicher. Wie kamen sie auf die Idee, sich ausgerechnet nach Val d’Isère zu begeben, damals ein 150-­Seelen-Ort, in dem Fremde schnell auffielen und sich auch deutsche Soldaten aufhielten?

Die Alpenregion rund um das Dorf war damals eigentlich eine katholische, konservative, rechtsgerichtete Gegend. Wer Juden versteckte, musste sich darauf gefasst machen, von den eigenen Nachbarn denunziert zu werden. Aber in den dreißiger Jahren waren viele Zugezogene aus dem Elsass nach Val d’Isère gekommen. Sie kamen ursprünglich aus einem banalen Grund: für den Skisport. Seit etwa 1930 begann sich das Skigebiet rasant zu entwickeln, und viele junge Männer aus dem Elsass führten die Skischulen und Hotels, ­einige waren selbst erstklassige Skifahrer. Der junge Arzt Frédéric Pétri zog 1938 nach Val d’Isère. Auch er kam aus dem Elsass und begeisterte sich für den Skisport. Viele Elsässer hatten wegen der Erfahrungen, die sie in ihrer Herkunftsregion gemacht hatten, eine starke Abneigung gegen die Deutschen. Bei Pétri verstärkte sie sich wohl, als er die Jahre 1940 bis 1942 in deutscher Kriegs­gefangenschaft verbrachte.

Als die Deutschen im September 1943 in die Alpen kamen, begannen einige der jungen Elsässer, ein Netzwerk der Résistance aufzubauen. Sie nutzten dazu eine Fähigkeit, über die sie alle verfügten: das Skifahren. Auf Skiern überquerten sie Bergpässe, knüpften Kontakte und bauten das Netzwerk aus. Pierre Haymann, Marion Müllers späterer Ehemann, war Mitglied der Résistance, kam aus dem Elsass und hatte vermutlich Beziehungen nach Val d’Isère. So könnten die Schwestern in dem Ort gelandet sein. Im Gespräch mit der BBC antwortete Huguette Müller, sie könne nicht mehr sicher sagen, warum ihre Schwester und sie damals nach Val d’Isère gegangen seien.

Die Wege von Huguette und dem Dorfarzt Pétri kreuzten sich früh. Huguette war im Winter auf dem glatten Boden ausgerutscht und hatte sich ein Bein gebrochen. Pétri wollte sie ins nächste Krankenhaus schicken. Aus Angst vor Fragen, die ihre Schwester in Gefahr hätten bringen können, geriet Marion in Panik und schlug dem jungen Mann ins Gesicht. Später nahm der Arzt die Teenagerin Huguette in seine Obhut. »Ich glaube, ich war dort für sechs Monate, ich kann mich nicht ganz erinnern. Alles, was ich wusste, war, dass es sicher war«, sagte Huguette der BBC.

Wie riskant es war, eine Jüdin zu verstecken, erzählte der BBC die Tochter des Arztes, Christel Pétri. Das Haus ihres Vaters lag direkt an der Hauptstraße, auf der deutsche Soldaten patrouillierten. Auch Bewohner des Dorfes, die im Widerstand waren, waren nicht sicher. Ein Mitglied der Résistance, ein Skilehrer, wurde 1944 verhaftet, deportiert und in einem KZ ermordet.

»Er wurde von einer großen Leidenschaft getrieben: nicht gebrochene Beine einzugipsen, sondern sich um Menschen zu kümmern«, sagt Christel Pétri, die der heimliche Einsatz ihres Vaters nicht überrascht. Später rettete er einem britischen Soldaten das Leben, der beinahe im Schneesturm umgekommen wäre, und pflegte auch diesen heimlich bei sich zu Hause. Er verlor niemals ein Wort darüber, dass er ein jüdisches Mädchen gerettet hatte. Nach Kriegsende wurde er Bürgermeister von Val d’Isère.

Mittlerweile wurde bekannt, dass sich während des Zweiten Weltkriegs noch andere Juden in dem Skiresort versteckt hielten oder versteckt wurden. In Val d’Isère aber scheint keine große Bereitschaft zu bestehen, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen. Als die BBC-Reporterin versuchte, mehr über das Vor­gehen der Résistance und die geretteten Juden herauszufinden, stieß sie im Dorf größtenteils auf Schweigen. Die Historikerin Jane Metter, die zur Geschichte Frankreichs während der deutschen Besatzung forscht, vermutet, dies sei der einzige Weg gewesen, um nach Kriegsende weiter mit seinen Nachbarn Tür an Tür leben zu können. Christel Pétri glaubt, dass deshalb selbst alteingesessene Familien nicht wissen, dass Mit­glieder der Résistance in ihrem Ort tätig waren.

Im Juni 1944 kehrte Marion, die zwischenzeitlich ihren späteren ­Ehemann in Toulouse besucht hatte, zu Huguette nach Val d’Isère zurück, um sie abzuholen. Zwei Monate nachdem die Schwestern den Ort ­verlassen hatten, wurde Val d’Isère befreit. Die Müllers zogen zunächst nach Paris, dann ging Marion nach London und Huguette zog nach San Francisco, wo sie ihren Vater wiedertraf, der den Holocaust in Paris überlebt hatte. Noch einmal kehrte Huguette Müller nach Val d’Isère ­zurück: in den siebziger Jahren, um Frédéric Pétri für seinen Mut zu danken. Sie kam allerdings zu spät, der Arzt war bereits verstorben.