»Die Wütenden«, ein Film über Polizeigewalt

Jäger und Gejagte

Der Ort, an dem Victor Hugos Roman »Les Misérables« spielt, ist auch der Schauplatz von Ladj Lys ­filmischer Studie über das Verhältnis von Bandenkriminalität und Polizeigewalt.

Sommer 2018: Im mit Trikoloren geschmückten Zentrum von Paris ­feiern der minderjährige Issa (Issa Perica) und seine Freunde aus der Banlieue den Sieg der französischen Fußballnationalmannschaft. Les Bleus sind Weltmeister. Im Taumel einer Nacht scheint der Traum von der Einheit aller Franzosen jenseits von Klasse, Hautfarbe und Geschlecht wahr zu werden. Auf seinen Teamgeist wird unterdessen auch der Polizist Stéphane (Damien Bonnard) eingeschworen, der sich aus der Provinz zu einer Einheit für Verbrechensbekämpfung nach Paris hat versetzen lassen. Seine Streife fährt zwischen den Plattenbauten von Les Bosquets in Montfermeil, dem Viertel, in dem Issa und seine Freunde ­leben. Hier explodierte 2005 die Gewalt der Vorstadt und erfasste in der Folge ganz Frankreich. Im ständigen Kampf der Gangs und Gruppen machen die Beteiligten hier ihren Rang im sozialen Gefüge aus. Die Härte, mit denen der junge Flic aus der Provinz bereits am Abend seines ersten Einsatztages konfrontiert ist, lässt ihn sagen, es sei der schlimmste seines Lebens gewesen.

Mit ihrem provokanten Auftreten sind die Polizisten Teil des Problems.

Das liegt neben der überall im Viertel spürbaren Gereiztheit auch an seinen beiden Kollegen. Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) machen ihren Job bereits seit zehn Jahren und sind in der Gegend eine feste Größe, allerdings nicht als über den Konflikten stehende ordnende Instanz, sondern als rivalisierende Terrorzelle im Clinch mit anderen. In permanenter Gewaltbereitschaft treten sie den von ihnen als »kleine Wanzen« verspotteten Jugendlichen, dem selbsternannten Bürgermeister und seinen Leuten, dem Muslimbruder und Dönerladenbesitzer Salah oder dem Clanchef Zorro entgegen. Mit ihrem provokanten Auftreten sind die Polizisten Teil des Problems. Insbesondere Teamleiter Chris glaubt sein Image als Alphatier beständig durch rassistische und sexistische Sprüche bestätigen zu müssen und findet ebenso viel Gefallen an der Macht, die ihm seine Position verleiht, wie an übergriffigen Personenkontrollen. Da er auch Stéphane von Anfang an seine Überlegenheit spüren lassen möchte, etwa indem er ihm gleich beim ersten Aufeinandertreffen den Spitznamen »Pomado« verpasst, ist der Konflikt zwischen den unterschiedlichen Charakteren programmiert. Gwada, der dritte Mann im Streifenwagen, erscheint gemäßigter. Er ist selbst in dem Viertel aufgewachsen, was nicht unbedingt ein Vorteil ist, schließlich gilt er bei den Bewohnern in erster Linie als Verräter. Deshalb steht er bei aller zur Schau gestellten Abgeklärtheit innerlich unter besonderem Druck. Und so ist er es, der durch einen leichtfertig abgegebenen Schuss zur Eskalation der Situation beiträgt, in der die Polizisten Jäger und Gejagte zugleich sind.

»Merkt euch, Freunde! Es gibt ­weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner«, wird am Ende des Films aus Victor Hugos Roman »Die Elenden« zitiert, mit dem der Film neben dem Titel (im Original »Les Misérables«) auch den Ort der Handlung und vor allem die genaue sozialrealistische Beobachtung gemein hat. Denn so kraftvoll und handlungsgetrieben Ladj Lys Spielfilmerstling ist: In Stéphanes unvoreingenommenen Blick von außen hat er zugleich das ideale Medium gefunden, um eine akkurate Bestandsaufnahme der Zustände in der Vorstadt zu liefern. Dass diese bis hinein in die Sprache der Protagonisten mit ihrem Witz glaubhaft ausfällt, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Ly selbst in Montfermeil aufgewachsen ist und weiterhin dort lebt. Nicht nur ist die Handlung durch seine Erfahrungen inspiriert, viele der Darsteller – allen voran Issa Perica und die Jugendlichen – hat er ­direkt dort gecastet.

»Die Wütenden«, der 2019 in Cannes den Preis der Jury gewonnen hat und nun für Frankreich als Kandidat um den besten internationalen Film ins Rennen um die Academy Awards geht, ist nach Bruno Dumonts »Jeanne D’Arc« bereits der zweite formal wie inhaltlich radikale französische Film, der 2020 in deutschen Kinos anläuft und mit Hilfe eines eigenwilligen Zugriffs auf ­einen zum nationalen Kulturkanon gehörenden Stoff versucht, die Lage im Land zu bestimmen. Mit Dumonts Interpretation des Mythos der Jungfrau von Orleans hat der Film auch gemein, dass er auf ebenso anschauliche wie verstörende Weise zeigt, wie wenig die verschiedenen Lager der Wütenden nicht nur in Frankreich in der Lage sind, aufeinander zuzugehen.

Die Wütenden (Frankreich 2019). Regie: Ladj Ly. Darsteller: Damien Bonnard, ­Alexis Manenti, Djibril Zonga. Kinostart: 23. Januar