Die Geschichte der linken DDR-Opposition erhält mehr Aufmerksamkeit

Jenseits von Nazis und Bananen

2020 wird der 30. Jahrestag der deutschen »Wiedervereinigung« begangen. Seit dem vergangenem Jahr erhält die Geschichte der linken DDR-Opposition mehr Aufmerksamkeit.

Der geschichtspolitische Höhepunkt des gerade angebrochenen Jahres steht schon fest: Es ist der 30. Jahrestag des Beitritts der ostdeutschen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grund­gesetzes – die sogenannte Wiedervereinigung. Die große Party mit Bundespräsident und Bratwurstessen und mehreren Hunderttausend Gästen soll dieses Jahr in der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam stattfinden. Dort soll die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer in den vergangenen drei Jahrzehnten gewürdigt werden.

Die Redakteure des »Telegraph« verstehen sich immer noch
»als Teil der außerparlamentarischen Opposition, nicht als Ex-Oppositionelle und nicht als Opfer«.

Damit kommt die 2019 begonnene Reihe von Veranstaltungen zum Gedenken an Wahlfälschungen, Montags­demonstrationen und die Maueröffnung zu ihrem feierlichen Abschluss. Doch nicht nur in chronologischer Hinsicht schließt das Volksfest am 3. Oktober die Reihe von Symposien, Ausstellungseröffnungen und Buchpräsentationen zur Feier des Untergangs des Realsozialismus ab. Beim großen Festakt am 3. Oktober soll erneut die Deutung vorgebracht werden, nach der das Aufbegehren gegen die SED-Herrschaft maßgeblich vom Wunsch nach der deutschen Einheit und Souveränität getragen gewesen sei, der mit der vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) herbeigeführten Vereinigung seine Erfüllung gefunden habe.

So weit ist das nichts Neues. Dieses Geschichtsbild und die entsprechenden Rituale des Erinnerns haben sich in den neunziger Jahren herausgebildet und werden seither gepflegt. Doch tatsächlich finden die Erinnerungs­feiern in einem im Vergleich zum großen Jubiläum vor zehn Jahren deutlich veränderten geschichtspolitischen Kontext statt. So haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr ab Ende der siebziger Jahre geborene Ostdeutsche zu Wort gemeldet, die eine differenzierte Darstellung der DDR und eine Beschäftigung mit den sozialen Folgen der Wiedervereinigung einfordern. Vor allem aber hat der Aufstieg von Pegida und AfD in Ostdeutschland die Behauptung von der gelungenen demokratischen Transformation nach 1990 erschüttert.

Nicht nur das offizielle Geschichtsbild wird so herausgefordert. Auch in der Linken befasst man sich seit einigen Jahren intensiver mit den Prozessen, die zum Ende der DDR führten. Dominierte über Jahre der Blick auf Nationalismus, Nazis und Bananen die Erinnerung an diese Zeit in verschiedenen Strömungen der Linken, lässt sich spätestens seit 2017 in breiterem Rahmen ein Versuch der (Wieder-)Aneignung der Geschichte der linken DDR-Opposition feststellen. Markante Punkte dieser Entwicklung sind unter anderem die Debatte über »Siegerjustiz« in der Roten ­Hilfe und die Veröffentlichung des Buchs »30 Jahre Antifa in Ostdeutschland«.

Als die Rote-Hilfe-Zeitung (RHZ) Ende 2016 eine Ausgabe über die angebliche Siegerjustiz gegen Angehörige des DDR-Staatsapparats herausbrachte, sah sie sich mit heftigen Protesten vor allem ostdeutscher Linker konfrontiert, die auf die Rolle gerade dieser Funktionäre bei der Verfolgung der linken Oppo­sition in der DDR hinwiesen (Jungle World 17/2019). Die Herausgeberin und der Herausgeber des Sammelbands »30 Jahre Antifa in Ostdeutschland«, Christin Jänicke und Benjamin Paul-­Siewert, konstatierten 2017 im Untertitel selbstbewusst, dass es sich um »eine eigenständige Bewegung« gehandelt habe, unabhängig von der westdeutschen Linken (Jungle World 30/2017). Eine Tagung zu dem Thema lockte im Dezember 2017 etwa 200 Antifaschistinnen und Antifaschisten nach Potsdam, wo 30 Jahre zuvor die erste ostdeutsche Antifagruppe entstanden war.

Eine treibende Kraft bei der Wiederentdeckung der Geschichte der oppositionellen Linken in der DDR ist die Redaktion der in Berlin erscheinenden Zeitschrift Telegraph. Bei dieser handelt es sich um die letzte noch regelmäßig erscheinende Publikation aus der linken ostdeutschen Opposition. Sie ging im bewegten Oktober 1989 aus der seit 1987 existierenden Oppositionszeitschrift Umweltblätter hervor, die von der zur Friedens-, Umwelt- und »Dritte Welt«-Bewegung der DDR gehörenden Ostberliner Umweltbibliothek herausgegeben wurde. Von 1998 bis 2013 erschien sie mit dem Untertitel »Ostdeutsche Zeitschrift« beziehungsweise »Ostdeutsche Quartalsschrift«, seit 2014 hat sie die Form eines politisch-literarischen Jahrbuchs. Die Redakteure verstehen sich immer noch »als Teil der außerparlamentarischen ­Opposition, nicht als Ex-Oppositionelle und nicht als Opfer«. Im März 2019 gründeten sie mit anderen Gruppen wie dem Leipziger Projekt »Aufbruch Ost«, der Kampagne »Unteilbar« und dem Berliner Arbeitskreis »Geschichte Sozialer Bewegungen Ost-West« das ­sogenannte Netzwerk Ost, das den »kurzen Herbst der Utopie« 1989 und damalige auf »Solidarität und Emanzipation« gründende gesellschaftliche Prozesse in der Öffentlichkeit bekannter machen will.

Entgegen dem Schlagwort von der »friedlichen Revolution«, die der dominanten Geschichtserzählung zufolge den Sturz der SED-Herrschaft und die Wiedervereinigung zum Ziel hatte, wird mit diesem Erinnern auch versucht, sich den Begriff der Revolution für die Herbst­ereignisse 1989 von links neu anzueignen. Dem gleichen Ziel dient eine im ­vergangenen Jahr erstellte Serie von Videointerviews mit linken DDR-Oppositionellen unter dem Titel »Wo warst du 1989? Und: Nennen wir es Revolution?« Auch die im November erschienene Ausgabe des Telegraph ist dem Herbst 1989 ­gewidmet. Im Zentrum steht die Reflexion der Prozesse im Umfeld jener Gruppen, die sich in der »Initiative für eine Ver­einigte Linke« (IVL) zusammenfanden, und die Frage, warum diese schließlich kapitalistischer Restauration und rabiatem Nationalismus nur wenig entgegenzusetzen hatten.

Judith Braband, Mitglied im 1989 gegründeten Unabhängigen Frauenverband der DDR und erste Geschäftsführerin der IVL, erinnert an die feminis­tischen Initiativen in der untergehenden DDR und die Auseinandersetzungen darüber in und mit der Vereinigten Linken. Der Historiker Thomas Klein, bei den Volkskammerwahlen im März 1990 als einziger Abgeordneter für die IVL ins letzte DDR-Parlament gewählt, blickt selbstkritisch auf die Geschichte der Organisation zurück und beschreibt die Ver- und Zerfallsprozesse der DDR-Opposition nach 1990.

Christin Jänicke und Benjamin Paul-Siewert rekonstruieren in ihrem Beitrag für die Zeitschrift Organisierungsversuche im jugendlich-subkulturellen linksradikalen Milieu der Wendezeit. In einer Anmerkung dazu stellt die Redaktion fest, dass es zu diesem Text »Diskussion und Widerspruch gab« und die »Mehrheit der Redakteure über das Geschehen 1989/90 und dessen Analyse andere Auffassungen ­vertreten«. Leider wird diese Debatte, die über den Konflikt zwischen Zeitzeugen und Historikerinnen hinauszugehen scheint, nicht weiter transparent gemacht.

Außerdem geht es um die Proteste gegen die Schließung des Kaliwerks im thüringischen Bischofferode, die Ost-CDU, Jazz, Kino und Kontinuitäten der Repression gegen unabhängige Linke vor und nach 1990.

Die übriggebliebenen oppositionellen Linken aus der DDR hatten in den vergangenen 30 Jahren wenige Erfolge zu feiern, doch scheint es ihnen mittlerweile zu gelingen, verblasste Erinnerungen an den Herbst 1989 zu beleben.