Mit Charlotte Wiedemanns neuem Buch ist die »Critical Whiteness« endgültig im Mainstream angekommen

Der hastige Abschied vom Westen

Die Auslandsreporterin Charlotte Wiedemann hat ein Buch geschrieben, das unfreiwillig zeigt, wem Critical Whiteness nützt: Deutschen mit einem Hang zur Selbstbespiegelung.

Die Verwandlung von Rassismuskritik in Esoterik schreitet rapide voran. ­Allen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre zum Trotz ist Critical Whiteness weitgehend unbeschädigt im publizistischen Mainstream angelangt. Mit dem Buch »Der lange Abschied von der weißen Dominanz« von Charlotte Wiedemann liegt nun »ein Mosaik von Gedanken, Erinnerungen, Begegnungen« vor, das »uns« gemäß der heiligen Dreifaltigkeit der »Weißseinsforschung« – Reportage, Kolportage, autobiographische Blamage – teilhaben lässt am Weltbild einer Journalistin, die ihre eigenen  Sinneseindrücke als verallgemeinerte Erfahrung ausgibt. Tatsächlich sind »wir« gleich mittendrin: Dank eines nur noch penetrant zu nennenden projektiven Gebrauchs der ersten Person Plural, der sich durch das gesamte Buch zieht, ist die Lektüre dieses hyperweißen Blendwerks von der ersten Seite an eine Zumutung.

Schon Wiedemanns vorhergehende Eloge »Der neue Iran« brillierte mit entwaffnenden Formulierungen (»Entsorgen wir endlich die Floskel vom Gottesstaat!«), während ein Blick auf den Repressionsapparat der »Islamischen Republik« fehlte und die Schuldigen für das schlechte Image der Diktatur unter Exiliranerinnen und -iranern ausgemacht wurde: »Ein Teil der Diaspora hat dazu beigetragen, ein veraltetes Iran-Bild zu konservieren, gezeichnet von Bitterkeit und enttäuschter Liebe.« ­Alles, was am Land objektiv aufregend ist – sich mit enormem Mut öffentlich mit der islamischen Geschlechter- und Sexualmoral anlegende Frauen, ihnen durch sarkastische Selbstverhüllung beispringende Männer, Techno-Raves in der Wüste –, tauchte bei der missionierten Reporterin nicht auf. Genau dieser Gestus, die eigene Biederkeit auf andere zu projizieren und hierüber das augenscheinliche eigene Gefallen an strenger Sittsamkeit zu rationalisieren, setzt sich in der neuen Abhandlung fort. »Wenn ein Aufzug sehr eng ist, dann warten ein Mann oder eine Frau lieber etwas länger im Flur, als sich neben eine Person des anderen Geschlechts zu drängen«, schreibt Wiedemann beispielsweise über in islamischen Ländern gängige Zwänge, die sie für elaborierte Alltags­konventionen hält: »Das mag man als Prüderie empfinden, könnte es aber auch Rücksichtnahme nennen.«

Hieran lässt sich bereits ablesen, wovon das Buch tatsächlich handelt: von der Autorin und ihren eigenen Bedürfnissen. Rassismus dient lediglich als umfänglicher Aufhänger zur unentwegten Selbstbespiegelung. Das ist der Kern der Critical-Whiteness-Ideologie, an deren Popularisierung die Journalistin mitarbeitet. Sie hat zusammengetragen, was sie andernorts gesehen und was sie ­gehört hat, und hält das bereits für eine Analyse. Vieles wird angerissen, weniges vertieft, Heikles und Anspruchsvolles ausgespart und  alles von Moral zusammengehalten: »Der Westen bestimmt nicht mehr die Ordnung der Welt, und wir können anderen unsere Definition von ­Fortschritt, Entwicklung oder Feminismus nicht länger aufzwingen.«

Rassismus ist bei Wiedemann kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Sphäre – und zwar im astrologischen Sinne des Worts: »In uns wirken Kräfte, die größer sind als jeder Einzelne.« Folglich gibt es keine Konjunkturen des Phänomens, die spezifisch deutsch wären, sondern einzig eine überhistorische Allgegenwart von Weißsein, deren Variationen an die Unterschiede von Sternzeichen gemahnen. Die Autorin scheut jede substantielle Auseinandersetzung. Nirgends tauchen etwa diejenigen auf, die das nur noch kafkaesk zu nennende bundesrepubli­kanische Ausländerrecht ausgearbeitet haben. Noch unangenehmer fällt allerdings eine andere Auslassung auf: In der gesamten Abhandlung findet sich kein Hinweis darauf, dass es migrantische Individuen waren, die sich in Westdeutschland gegen Bevormundung, Reglementierung und eben auch gegen Rassismus zur Wehr setzten. Die Gründe für die eklatante Lücke liegen auf der Hand: Selbstbewusste Personen migrantischer Herkunft, die sich nichts bieten und sich nichts vormachen lassen, sind das, wovor sich Adeptinnen der Critical Whiteness, Genderfeministinnen, Antirassisten und Queer-Bewegte am meisten fürchten. Denn Personen, die aus sich selbst heraus etwas hervorbringen, hinter das der derzeit heißgeliebte »Migrationshintergrund« zurücktreten kann, haben in der Regel kein Interesse daran, sich in die projektiv-paternalistische Obhut herkunftsdeutscher Läuterungsapostel zu begeben – zumal sie diesen gern zu verstehen ­geben, was sie von ihnen halten.

Der dauersentimentale Grundton von Wiedemanns »Mosaik«, das tatsächlich ein Potpourri aus Anekdoten, Mutmaßungen und Zuschreibungen ist, verbirgt die Empathielosigkeit nur dürftig. Diese scheint stets dann durch, wenn von den unangenehmen Seiten des Islam geschwiegen werden soll. So verweist die Journa­listin auf den von Deutschen im KZ Stutthof verübten Massenmord an Juden, um Tote und Schwerverletzte der Gegenwart, die auf das Konto ­jihadistischer Schergen gehen, als Petitessen abzutun. Über die islamistischen Anschläge von Würzburg und Nizza heißt es bei ihr: »Vielleicht denken wir einmal an den Sommer von Stutthof, wenn ein afghanischer Junge eine Axt erhebt oder ein Amokfahrer über eine Promenade von Nizza rast.« Der süße »Junge«, der 2016 in einem Zug in Mordabsicht ein Beil schwang und mehrere Mitglieder einer chinesische Familie ­lebensgefährlich verletzte, und der islamistische Attentäter, der im selben Jahr den planmäßigen Massenmord an 86 Personen vollzog und über 400 weitere teils schwer verletzte Opfer zu verantworten hat, die sich anlässlich des französischen Nationalfeiertags an der Strandpromenade eingefunden hatten, als Täter, die eigentlich nicht der Rede wert seien – Wiedemann hat mit diesem Satz die wohl vulgärste und zynischste Formulierung vorgelegt, die seit jenen Anschlägen niedergeschrieben worden ist. Dass sich diese Zeile in einem Buch findet, das der Deutsche Taschenbuch-Verlag veröffentlicht hat, zeigt, dass die rhetorischen Gepflogenheiten der postkolonialen Terrorapologetik längst in den publizistischen Mainstream gesickert sind.

Davon abgesehen stellt sich wie bei allen Abhandlungen aus dem Bereich der Critical Whiteness auch bei dieser die Frage, weshalb Deutsche mit ungebremsten Sendungsbewusstsein ihre auf Außenstehende nicht selten neurotisch anmutende Selbstbeschäftigung, die niemanden interessiert, solcherart hervorkehren. Der Verdacht liegt nahe, dass dies weniger einem genuinen Unbehagen am Rassismus geschuldet ist, sondern vielmehr die eigene Pigmentierung zum Anlass genommen wird, um narzisstische Gratifikation aus der moralinsauren Zurechtweisung anderer zu ziehen. In vielerlei Hinsicht gemahnt insbesondere die hier zur Schau gestellte Biederkeit an den Auftritt und den Sittlichkeitsauftrag deutscher Kolonialfrauen, mit dem Unterschied, dass die heutigen Vertreterinnen dieses Phänotyps ­gegenwärtig die »Dritte Welt« bereisen und affirmativ beschreiben, was einst als »unzivilisiert« galt, während die zu Missionierenden in ­Europa leben. Diesen wird eingetrichtert, dass sie von der »Kultur« der ehedem »Anderen« zu lernen hätten, egal durch was sich diese auszeichnet. »Wir kommen nicht, um eure Bodenschätze zu holen. Wir kommen, um euch zu helfen«, zitiert Wiedemann anerkennend einen kongo­lesischen Prediger, der am Berliner Alexanderplatz wirkt. Überaus deutsch erscheint auch die gehörige Portion Schicksalsergebenheit, sich ­einem als epochal apostrophierten Ende zu beugen, das der pflichtbewusste Titel des Buches vorausschickt. Von der Behauptung, hier gehe es um einen »langen Abschied von der weißen Dominanz«, sollte man sich deshalb nicht täuschen lassen. Was die Journalistin zu beschreiben vorgibt, ist das Ende eines symbolischen Vorrangs mit realen gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Worauf sie tatsächlich hinarbeitet, ist das Ende all dessen, was am Westen genuin originell, eigenständig und erhaltenswert wäre: ob Virginia Woolf als Paradebeispiel für Weltliteratur, das zwanglose und auf Identitäten pfeifende Feiern im Berghain – oder eben der jüdische Staat.

Abzulesen ist das an den am Buch­ende platzierten Eingebungen zu ­Israel, die modisch geschickt als Eindrücke »aus der Sicht des globalen Südens« präsentiert werden. Dort heißt es im Tonfall des subtilen Tabubruchs, dass sich »jegliche Kritik an Israels Besetzung der palästinensischen Gebiete dem Vorwurf des ­Antisemitismus ausgesetzt« sehe. Wiedemann erinnert sich, wie sie im Westjordanland einen Bauer getroffen habe, dessen Olivenhain »von der Besatzungsmacht unter einem Vorwand niedergemäht« worden sei: »Wie würde ich Israel sehen, wenn ich Palästinenserin wäre? (…) Würde ich die Israelis hassen? Einige, alle? Und würde es mir gelingen, zwischen Israelis und Juden zu unterscheiden?« Auf die raunende Speku­lation, die den verbotenen Gedanken umkreist, folgt sogleich die Schlussfolgerung: »Wir urteilen in Deutschland gerne über den Hass anderer, ohne selbst gelitten zu haben.« Dann hat ein »Nachkomme deutscher ­Holocaust-Flüchtlinge« das Wort, der als jüdischer Kronzeuge sagen darf: »Meine Regierung manipuliert die Angst vor Antisemitismus.«

Wem es bis dahin noch nicht gedämmert haben sollte, der weiß ­spätestens an dieser Stelle: »Der lange Abschied von der weißen Dominanz« ist keine Auseinandersetzung mit Rassismus, sondern manipulativer Gesinnungskitsch. Wiedemanns jüngste Publikation fügt sich bestens in eine gesellschaftliche Stimmung, in der es nicht auf die Bekämpfung rassistischer Zustände ankommt, sondern auf eine antirassistische Attitüde, die die eigene Kasse klingeln lässt, während zugleich nach Aufmerksamkeit heischend Anschluss bei ­anderen Berufstugendlichen gesucht wird. Dass dabei der Antizionismus als verlässliches Marketing-attribut wirkt, versteht sich in Deutschland von selbst. Dass das Milieu der Critical Whiteness nun um einen esoterischen Verblendungsgrad heller aus der Mitte der Gesellschaft strahlt, ebenso.

Charlotte Wiedemann: Der lange Abschied von der weißen Dominanz. Deutscher ­Taschenbuch-Verlag, München 2019, 288 Seiten, 18 Euro