Klassenkampf

Am schönsten ist es in der Erinnerung

Kolumne Von

Erinnerungen können bekanntlich trügerisch sein. Ich glaube ja, dass Erinnerungen an die Schulzeit zu den trügerischsten überhaupt gehören. Vielleicht, weil da so viel passiert ist. Oder weil man so viele fremde Geschichten darüber kennt, dass die eigenen durcheinander geraten. Oder vielleicht ist man auch zu alt und alles zu lange her, außerdem war man ja bescheuert damals. Eine meiner Schulerinnerungen geht so: Wenn wir uns mal kurz die Mühe machen, uns Schule als einen großen Plastikkürbis voller Halloweensüßigkeiten vorzustellen, dann war der Deutschunterricht grundsätzlich der Markenschokoriegel zwischen Billig-Weingummi, angematschtem Obst und Multivitaminbonbons. Diejenigen, die die Riegel verteilten, waren dieser Erinnerung zufolge unfehlbar nachsichtige, humorvolle und charmante Personen, an deren Tür man gerne klingelte und die sich niemals einen blöden Hund gehalten hätten. (Nur am Rande: Wir wissen alle, welches Fach der Typ hinten im Eckhaus unterrichtete; der, aus dessen Wohnung der seltsame Geruch kam und der für die handvoll feuchter Salmiakpastillen im Kürbis verantwortlich zeichnete. Oder?)

Die Erinnerung an den Deutschunterricht ist schön. Inzwischen stehe ich ihr allerdings mit einer gewissen Skepsis gegenüber, auch, weil ich vor ein paar Jahren mein altes Aufsatz- und Diktatheft aus der achten Klasse wiedergefunden habe und feststellen musste, dass meine damalige Deutschlehrerin erstens fehlende I-Pünktchen als Fehler anstrich, zweitens eine »Schönschrift«-Note vergab, die zu einem Viertel in die Gesamtnote einging und drittens eine meiner Arbeiten um eine halbe Note abwertete, weil ich vergessen hatte, das Datum zu notieren.

Heute frage ich mich natürlich, ob die Deutschlehrerin das überhaupt durfte, falls ja, wer das entschieden hatte und – am allerwichtigsten – ob eine solche Person überhaupt etwas anderes als alte, schmutzige Multivitaminbonbons verteilen kann. Ich glaube: Nein.

Mein altes Schulheft war im Übrigen auch deswegen interessant, weil ich jetzt weiß, dass wir in der achten Klasse noch Diktate geschrieben haben, eines davon über ein US-amerikanisches Fest namens Halloween, das niemand von uns kannte und das vermutlich nicht nur von mir durchgehend falsch geschrieben wurde. 
Heute werden ab der Sekundarstufe gar keine Diktate mehr geschrieben, überwiegend deswegen, weil sie kein problemlösendes Denken erfordern und das Regelwissen zur Rechtschreibung, soweit vorhanden, in dem verlangten Tempo oft nicht zur ­Anwendung gebracht werden kann. Aus genau diesen Gründen finden die Kinder Diktate selbstredend mehrheitlich prima, sie denken zwischendrin ganz gerne mal nicht nach. Ich übrigens auch. Vielleicht gönne ich mir und ihnen zu »Hellowien« mal einen treat und lese Sachen über Kürbisse und Süßigkeiten vor und gucke, ob jemand da ist, der das »ß« noch benutzt.