Der »Joker« wandelt an der Grenze des Erträglichen

Incel Inside

Todd Phillips’ »Joker« mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle ist ein abgründiges cineastisches Meisterwerk – nicht zuletzt, weil der Film die Krisen und Konflikte der Gegenwart reflektiert.

Die Umstände der Premiere von Todd Phillips’ »Joker« bei den Filmfestspielen in Venedig wirken wie für den Film inszeniert. Während Klimaaktivisten auf dem Roten Teppich protestieren, wird Joaquin Phoenix für seine Darstellung des Arthur Fleck, der am Ende eines langen Leidensweges zum anarchischen Joker wird, minutenlang mit Ovationen gefeiert. Auch im Film wird protestiert, weil die Stadt – Gotham – und ihre Eliten nichts gegen die sich verschärfenden sozialen und ökologischen Probleme unternehmen. Auch im Film wird der Protagonist, der zu Beginn nur als Opfer seiner Umgebung schmerzhafte Momente ihm zugekehrter Aufmerksamkeit erlebt, kurz vor Ende frenetisch gefeiert: als Gesicht des gewalttätigen Widerstands gegen die Verhältnisse.

Die Geschichte des Jokers als Erzfeind des DC-Comic-Superhelden Batman ist lang und wechselhaft: Bereits im ersten eigenständigen Batman-Heft von 1940 tritt er als bizarr aussehender Massenmörder auf, der seine Opfer mit zu grinsenden Grimassen erstarrten Zügen zurücklässt. Ab den späten vierziger Jahren, als der Ton der Batman-Serie insgesamt leichter wird, entwickelt sich auch der Joker vorübergehend zu einer relativ harmlosen Figur, die sich etwa in der comedyartigen Fernsehserie der Sechziger durch ihr gackerndes Lachen auszeichnet. In den Siebzigern kehrt dann der Wahnsinn zurück und erreicht mit Heath Ledgers Oscar-prämierter Darstellung des Joker in Christopher Nolans »Der dunkle Ritter« (2008) seinen Höhepunkt. Hier bleiben Vergangenheit und Herkunft des Jokers im Dunkeln. Was die Figur so erschreckend wirken lässt, ist ihr reiner ­Nihilismus. Begleitet von der leitmotivischen Frage »Why so serious?« bringt das personifizierte Böse Tod und Chaos – gänzlich ohne erklärenden Hintergrund.

Die Genese des Bösen nehmen sich nun Phillips und Phoenix in »Joker« vor. Dafür lassen sie das Superhelden-Genre bis auf wenige Anspielungen hinter sich und kreieren ein Psychodrama, das sich hochachtungsvoll cineastischen Vorbildern nähert, insbesondere dem Kino des New Hollywood, wie es in den Filmen Martin Scorseses eine letzte Blüte erlebte. Nicht nur mit der Besetzung Robert De Niros als Talkmaster Murray Franklin zeigt sich dieser Bezug. Insgesamt wirkt »Joker«, als habe Phillips »Taxi Driver« (1976) auf der Höhe der Produktionsmittel von heute ein Denkmal setzen wollen – als Mash-up mit einem weiteren Kritiker-Lieblingsfilm von Scorsese: »The King of Comedy« von 1982. Hier spielt De Niro als Rupert Pupkin mit seinem Traum, Entertainmentstar zu werden, in etwa die Rolle, die nun Phoe­nix als Arthur Fleck innehat.