Besuch einer Herberge in der ecuadorianischen Stadt Cuenca, in der venezolanische Flüchtlinge unterkommen

Unerwünschte Gäste

Viele Menschen fliehen vor der schlechten Lage in Venezuela in die Nachbarländer. Von der Regierung in Ecuador erhalten die Migranten kaum Hilfe. Die von der Kirche betriebene Herberge San Francisco in Cuenca versucht, auch ohne staatliche Unterstützung zu helfen.

Jeden Morgen stehen Männer mit gepackten Taschen an der Plaza Abdón Calderón im ecuadorianischen Cuenca und warten darauf, dass potentielle Arbeitgeber mit dem Auto vorfahren. Manche der Wartenden tragen Pappschilder, auf die sie ihren Beruf geschrieben haben: Klempner, Maurer, Zimmermann, Kellner. Doch die Resonanz hält sich an diesem Dienstagmorgen in Grenzen. »Das ist nicht immer so, aber grundsätzlich gibt es wenig Jobs«, meint Galvin Perales. Der 24jährige kommt aus San Juan de los Morros, der Hauptstadt des venezolanischen Bundesstaats Guárico, und lebt seit mehr als einem Jahr im Exil. »Erst lebte ich in Medellín, nun hier in Cuenca. In Kolumbien sind die Leute zwar offener, aber in Ecuador sind die Löhne höher«, sagt er mit einem schüchternen Grinsen. Er sei Techniker im Verwaltungssektor, habe aber schon in verschiedenen Branchen gearbeitet. »Man muss nehmen, was man kriegt«, sagt der schlak­sige Mann, der bei einem Freund in Cuenca untergekommen ist.

Für Perales war die Entscheidung, nach Ecuador zu gehen, die richtige. Es gibt etwas Unterstützung für Migranten und das Land ist deutlich sicherer als das benachbarte Kolumbien. »Abends gehe ich zum Beispiel oft in die Posada San Francisco, wo es für Migranten aus Venezuela oder Kolumbien, aber auch für arme Ecuadorianer eine warme Mahlzeit gibt. Das hilft«, sagt Perales. Dann wendet er sich einem Auto zu, das langsam die Reihe der Arbeits­suchenden abfährt und bei ihm hält. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Fahrer steigt er ein, grüßt noch einmal und fährt davon. Glück gehabt, ­zumindest heute ist Perales mit Arbeit versorgt.

Die Kirche San Francisco betreibt die Herberge für Flüchtlinge in Cuenca.

Bild:
Knut Henkel

Für Migranten aus Venezuela wird es immer schwieriger, Arbeit zu finden, meint Jorge Moreno. Der Pfarrer der Kirche San Francisco, die direkt an der Plaza Abdón Calderón liegt, weiß auch, weshalb das so ist: »Ecuador befindet sich in einer Wirtschaftskrise und Neuankömmlinge werden als billige Konkurrenz wahrgenommen.« Abfällige Bemerkungen bekämen die Migranten öfter zu hören, so der Geistliche. Die Kirche San Francisco betreibt die Posada San Francisco, die es seit rund 50 Jahren gibt. »Ursprünglich wurde sie gegründet, um Menschen aus der Umgebung an den Markttagen eine Unterkunft zu bieten. Viele kamen nach Cuenca, um ihre Produkte zu verkaufen, konnten sich aber kein Hostel leisten«, erläutert der Padre die Hintergründe.

Ausgebeutete Billigarbeitskräfte

Diese Menschen gibt es auch heute noch, aber es sind deutlich weniger als früher und so ist die Posada zur Anlaufstelle für Migranten aus dem ­benachbarten Kolumbien und in den vergangenen Jahren auch aus Vene­zuela ­geworden. Es ist die einzige Herberge für Migranten der Kolonialstadt Cuenca, die Hauptstadt der Provinz Azuay lebt vor allem vom Tourismus. In Cuenca wird zudem mit Milch, Käse, Obst und Gemüse aus der frucht­baren Region gehandelt, der größte Markt der Stadt befindet sich nahe der Kirche. Dort, rund 200 Meter entfernt von der Kirche San Francisco, befindet sich auch die Herberge. Über einen Innenhof ist die Posada mit dem Gemeindezentrum und der Kirche verbunden. An den Verwaltungsbüros der Gemeinde und der Wohnung des Pfarrers geht es vorbei bis zu einer Metalltür, dem Zugang zur Herberge.

Moreno zieht seinen Schlüsselbund hervor und öffnet die Tür. In der Küche steht der Koch Douglas und beseitigt mit einer Kollegin die Reste des Frühstücks. Die Übernachtungsgäste sind längst gegangen. »Nach dem Frühstück müssen sie die Posada verlassen. Ab 18 Uhr öffnen wir dann wieder«, erläutert der Pfarrer. Rund 50 Schlafplätze hat die Herberge. »Oft zu wenig und deshalb denken wir über die Anschaffung von Etagenbetten nach, denn anders lässt sich die Kapazität nicht erhöhen – es fehlt an Platz«, so Moreno. Dann weist er den Weg durch das Haus. Eine Handvoll Schlafräume mit jeweils einem Dutzend Betten gibt es, die bereits wieder frisch bezogen sind. Neben den Gemeinschaftsbädern laufen in der Wasch­küche die Maschinen und im Innenhof, wo sich die Gäste aufhalten können, hängen Bettlaken. Gegenüber befindet sich der großzügig bemessene Speisesaal mit Fernseher, die Küche ist professionell ausgestattet. Douglas steht in der blütenweißen Kluft eines Kochs am Herd und deutet auf ein ­Tablett mit zwei Gläsern frischen Mangosafts und einem Teller mit Keksen. »Eine kleine Stärkung«, sagt er mit ­einem freundlichen Lächeln und wendet sich wieder den Töpfen zu, die auf dem Herd stehen. »Jeden Tag gehen zwischen 120 und 180 Essen hier raus und wir geben uns Mühe, nicht nur gut zu kochen, sondern legen auch Wert auf gastronomischen Service. Wir wollen mehr als eine Herberge sein«, sagt der Pfarrer und nippt an seinem Saft.

Allerdings ist das Geld knapp. Die Kirche selbst verfügt nur über geringe Mittel. Seit drei Monaten kommt das UN-Flüchtlingshilfswerk für das Essen auf, ansonsten ist die Posada auf Spenden angewiesen. »Es gibt keinen Etat von der Regierung in der Hauptstadt Quito für die Versorgung der Flüchtlinge. Wir haben zumindest noch nie etwas von dort erhalten«, sagt Moreno. Dabei hat die ecuadorianische Regierung bereits im November 2018 ein Programm für die Versorgung der Migranten aus Venezuela angekündigt. 300 000 sollen mittlerweile in Ecuador leben, das nach Kolumbien und Peru das wichtigste Aufnahmeland ist. Doch staatliche Aufnahmeeinrichtungen für die Flüchtlinge aus Venezuela, wo die politische und ökonomische Krise weiter anhält, gibt es nicht.

Unqualifiziert und diskriminiert

In Quito, sind alle fünf Herbergen privat organisiert. »Vor allem von den Kirchen«, so Mauricio Burbano vom ­Jesuitischen Hilfsdienst für Flüchtlinge (JRS). Der Soziologe mit dem Fachgebiet Migration arbeitet an der Päpstlichen Katholischen Universität von Quito und benennt die politischen Defizite: »Die Regierung tut sich schwer, Mittel bereitzustellen. Man hofft auf internationale Hilfe, vom ­UNHCR, von Kooperationspartnern, von anderen UN-­Organisationen wie Unicef. Das reicht aber nicht, um ein umfassendes Programm zu finanzieren – das ist die Grund­konstellation aus meiner Perspektive.« Der Mangel an Unterstützung ist in Quito genauso wie in Cuenca zu merken. Oft sieht man Familien, junge Männer oder Frauen, die bettelnd durch das Zentrum ziehen oder an den Ausfallstraßen der Stadt stehen. »Ihnen wird nicht immer mit Verständnis ­begegnet – die abweisende Haltung wird häufiger«, meint Moreno.

Der Jesuit und Soziologe Mauricio Burbano kritisiert die Flüchtlingspolitik.

Bild:
Knut Henkel

»Mit der ersten Welle kamen in aller Regel die gut Ausgebildeten mit einer konkreten Jobperspektive. In der zweiten Welle Familien sowie erwachsene Einzelpersonen und in der dritten Welle haben wir es nun oft mit Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren zu tun, die kaum oder gar nicht qualifiziert sind«, schildert Moreno die derzeitige Situation. Mit dieser ist auch Luis Montero konfrontiert. Der Lehrer aus der Umgebung von Cuenca leitet die Posada ab dem späten Nachmittag ehrenamtlich mit einigen Helfern. Nur Koch Douglas und zwei, drei weitere Hilfskräfte sind fest angestellt. Montero ­koordiniert die Abläufe und versucht zu helfen, wo er kann. »Das ist schwieriger geworden. Der Arbeitsmarkt gibt für Ungelernte kaum etwas her und ­eigentlich müsste man viele der jungen Neuankömmlinge aus Venezuela erst einmal qualifizieren«, so die Einschätzung des Pädagogen.

Das ist in Ecuador trotz aller vollmundigen Ankündigungen der Regierung kaum vorgesehen. Schulplätze für Kinder und Jugendliche seien generell knapp und für Kinder aus Venezuela nur äußerst selten zu ergattern, so der ­Migrationsexperte Burbano. Dies bestätigte auch Ecuadors Ministerin für ­soziale und ökonomische Inklusion, Berenice Cordero, Ende Mai in einem Interview mit der Tageszeitung El Comercio. Nur 20 Prozent der Kinder von Migranten aus Venezuela gingen in Quito zur Schule, ergaben Stichproben ihres Ministeriums. In anderen Städten wie Guayaquil oder Cuenca sei die Quote nicht viel höher, so die Ministerin. Sie mahnte, gleiche Standards für alle Kinder und Jugendlichen in Ecuador einzuhalten.

Als Diebe und Kriminelle stigmatisiert

Doch dies sei selten der Fall, und für Jugendliche aus Venezuela sei die Situation oft noch prekärer, so Montero. »Sie haben kaum Perspektiven, werden im besten Fall als billige Arbeitskräfte in der Gastronomie ausgebeutet, müssen oft ein oder auch mehrere Tage unentgeltlich auf Probe arbeiten. Es gibt Unternehmer, die die Notlage hemmungslos ausnutzen«, kritisiert der Lehrer.

Das bestätigt auch Perales, der zu den ersten gehört, die an diesem Abend in die Posada kommen. »Ich habe heute auf dem Bau gearbeitet und in etwa die Hälfte dessen bekommen, was die ecuadorianischen Kollegen erhielten. Nicht zum ersten Mal«, sagt er. Solche Erfahrungen machen viele der Venezolaner, die sich heute Abend in der Posada einfinden. Viel mehr als ihre Namen nimmt Montero nicht auf, denn die meisten der Übernachtungsgäste haben keine Papiere. Das gilt vor allem für die Jugendlichen, von denen mehr als zwei Dutzend gekommen sind.

Geflüchtet aus Venezuela. Rosa Medina und Rámon Rojas.

Bild:
Knut Henkel

»Papiere in Venezuela zu bekommen, ist ein extrem bürokratischer Prozess, es dauert Monate, oft Jahre, und kaum ein Jugendlicher setzt sich dem aus«, erklärt Ramón Rojas. Der freischaffende Theatermacher ist an diesem Abend gemeinsam mit seiner Bekannten Rosa Medina und zwei Kindern in der Posada, um hier zu übernachten. »Wir leben in Baños, sind aber von Zeit zu Zeit in Cuenca, um Theatervorführungen für Kinder zu veranstalten«, ­erklärt er. Er greift auf Lieder und Kostüme aus seinem Herkunftsland Venezuela zurück und kommt damit halbwegs über die Runden.

Medina hilft mit kleinen Clips, macht Werbung und kümmert sich um alles Organisatorische. »Das war auch mein Job in Venezuela, aber hier habe ich damit kaum eine Chance. Daher habe ich in der ­Altenpflege gearbeitet, auf Kinder aufgepasst und träume davon, ein kleines Geschäft aufzumachen. Aber mir fehlt das Startkapital«, sagt die 55jährige. Seit dem 21. August 2018 lebe sie in Ecuador und verfolge, wie sich die Haltung zu den Neuankömmlingen verändert. »Wir werden immer öfter als Diebe und Kriminelle stigmatisiert, vor allem die Jugendlichen«, sagt sie mit leiser Stimme. Dass es schwarze Schafe gebe, ­bestreite sie nicht; dass etliche Jugendliche betteln, passe ihr gar nicht. Aber sie weiß auch, dass es kaum Chancen auf Arbeit gibt. »Ein Kreislauf, den wir ­gemeinsam durchbrechen müssen«, meint sie.

Immer weniger willkommen

Hier möchte Montero, der Leiter der Posada, ansetzen. Er hat ein Konzept für ein Ausbildungszentrum für Jugendliche erarbeitet und es dem UN-Flüchtlingswerk und der Regionalregierung vorgelegt. »Ohne Qualifikation haben die ­Jugendlichen aus Venezuela kaum eine Chance, also müssen wir sie qualifizieren«, sagt er. Tischler, ­Mechaniker, Elektriker, Klempner und weitere Handwerker sollen dort in ein paar Monaten ausge­bildet werden, insgesamt sind es 15 Berufe. Beim UN-Flüchtlingswerk kam das Projekt gut an, auch Caritas International würde Geld geben, nur die ­Regional- und die Zentralregierung hätten sich noch nicht zurückgemeldet –obwohl Montero schon ein Grundstück ausgesucht hat.

Das Zögern sei nicht ungewöhnlich für die staatlichen Stellen, die sich schwertun, Projekte zu schaffen, so Burbano. »Immer öfter werden die Migranten als Sicherheitsrisiko angesehen statt als humanitäre Herausforderung. Wir bewegen uns zurück«, mahnt der 47jährige. Ein Beleg dafür sei, dass ­Ecuador nun gültige Dokumente von den Neuankömmlingen verlangt, um ein Visum zur Einreise auszustellen.

Doch gültige Papiere haben nur ­wenige der Neuankömmlinge, sie können somit die Voraussetzungen für das seit dem 26. August nötige Visum zur Einreise nicht erfüllen. Peru verlangt bereits seit Anfang Juni gültige Papiere von den Migranten aus Vene­zuela. Burbano hält das für einen Rückschritt und aus humanitärer Perspektive bedenklich: »Das widerspricht der Freizügigkeit des Reisens, die die lateinamerikanischen Staaten einst vereinbart hatten – Modell war damals die Europäische Union.« Die Staaten der Andengemeinschaft und der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur hatten eigentlich vereinbart, dass ihre Bürger sich bei Reisen in andere Mitgliedsländer nur mit dem Personalausweis ausweisen müssen.
Die humanitäre Krise in Lateinamerika könnte sich also verschärfen. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass sich die Zahl der Flüchtlinge aus ­Venezuela in den Nachbarländern bis Ende 2020 auf acht Millionen verdoppeln könnten. Nur sind sie immer weniger willkommen.