Der Kibbuz und der Kollektiv­gedanke

Israels erstes Start-up

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Yechezkel Dar kam 1943 aus Osteuropa nach Degania. »Damals war hier alles viel kleiner«, erinnert er sich. Der rüstige 87jährige war früher Kibbuzsekretär in Degania. Lange arbeitete er auch als Soziologieprofessor an der Universität in Jerusalem. Dass Kibbuzniks außerhalb ihrer Siedlung arbeiteten, war früher die Ausnahme – mittlerweile ist es nicht ungewöhnlich. »Von unseren etwa 340 Mitgliedern arbeiten ungefähr 130 außerhalb des Kibbuz«, sagt Dar im Gespräch mit der Jungle World. Der für viele Kibbuzim so typische Landwirtschaftsbetrieb existiert hier trotzdem noch immer. Neben Bananen-, Oliven- und ­Zitrusplantagen gibt es einen Milchbetrieb mit mehreren Hundert Kühen, eine Fabrik, eine eigene Schule und ein Museum.

Heutzutage gibt es in Israel etwa 280 Kibbuzim mit ungefähr 170 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Doch nur noch etwa 55 dieser Siedlungen, weniger als 20 Prozent, seien noch nach dem traditionellen Kollektivkonzept organisiert, sagt Michal Palgi der Jungle World. Die Professorin forscht an der Universität Haifa zu Kibbuzim. ­Palgi zufolge beheimaten diese zwar weniger als zwei Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung, ihr Anteil an der Industrieproduktion des Landes betragt aber neun Prozent, an der Landwirtschaft sogar 40 Prozent.

Die Prinzipien des Kollektiveigentums, der gegenseitigen Verantwortung, der demokratischen Selbstverwaltung und Ämterrotation, später auch der Kollektiverziehung in eigenen Kinderhäusern gab die Mehrheit der Kib­buzim seit den achtziger Jahren in unterschiedlichem Maß zugunsten einer eher privatwirtschaftlichen Organisation auf. Manche von ihnen ähneln mittlerweile ganz normalen Dörfern, in denen lediglich die Infrastruktur vergleichsweise gut ausgebaut ist; ihre Mitglieder bezahlen nur noch eine Art Gebühr oder Extrasteuer für Gemeinschaftseinrichtungen wie Kinder­gärten oder Schwimmbad. Sogenannte Kibbuz-Neighbourhoods sind nach der großen Abwanderung junger Kibbuzniks um die Jahrtausendwende mittlerweile auch bei nicht kollektiv erzogenen Israelis äußerst beliebt, vor allem da Kibbuzschulen und -kindergärten bei jungen Eltern einen ­guten Ruf genießen und das Leben im Vergleich zu dem im urbanen Israel eher günstig ist.

Udi Peled, Kibbuznik der zweiten Generation im nahe Haifa gelegenen Ramat Yochanan, sagt im Gespräch mit der Jungle World, dass es in seinem Kibbuz noch immer die traditionelle Organisationsweise gebe. Traditionell heißt kollektivistisch, die umfangreich oder teilweise privatisierten Kibbuzim heißen »erneuert« oder »reformiert«. Wobei der Kollektivismus in Ramat Yoch­ahan Reichtum keineswegs ausschließt. Der Kibbuz ist Forbes zufolge der sechstreichste Israels. Der kibbuzeigene Betrieb Palram besitzt inzwischen weltweit Fabriken zur Herstellung von Kunststoffplatten, unter anderem im sachsen-anhaltinischen Schönebeck. Auch Netafim, einer der größten Hersteller für künstliche Bewässerungsysteme weltweit, und das Rüstungsunternehmen Plasan, das unter anderem das israelische Militär und die US-Armee mit gepanzerten Fahrzeugen beliefert, waren oder sind im Besitz von Kibbuzim.