נושא - Die Ultraorthodoxen in Israel

Die Macht der Gottesfürchtigen

Der politische Einfluss der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe Israels steigt. Die Ultraorthodoxen könnten die Zukunft des Landes maßgeblich bestimmen.
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Während jeden Samstag das Leben in Jerusalem für 24 Stunden ansonsten weitgehend zum Erliegen kommt, ist das vegane und LGBT-freundliche Café Bastet ein beliebter Treffpunkt der säkularen Bewohnern der Stadt. An blauen Tischen, die sich über den Bürgersteig erstrecken, wird ausgelassen gefeiert und gesungen. Vor dem Bistro spielt sich indes regelmäßig ein mittlerweile ­ritualisiertes Schauspiel ab: Ultraorthodoxe jüdische Männer, in Schwarz ­gekleidet, demonstrieren und bringen lautstark ihren Missfallen über die Entweihung des Ruhetags zum Ausdruck. »Schabbes«, schimpfen die Ultraorthodoxen, die auch Haredim (»die Gottesfürchtigen«) genannt werden – das Wort ist die jiddische Bezeichnung für den Sabbat.

Die Regierungsbildung nach den Wahlen im April scheiterte, weil die säkularen und die religiösen Parteien der Rechten keine Einigung erreichen konnten.

»Neulich zogen einige Mitarbeiterinnen des Cafés demonstrativ ihre T-Shirts aus, um ihre BHs zu zeigen und so die aufgebrachte Menge der religiösen Konservativen zurückzudrängen«, sagt Mika Bar Adam, eine der Mitarbeiterinnen, die sich an dem Tag ebenfalls das Shirt hochzog, der Jungle World. Diese Konfrontation illustriert den Konflikt über die religiöse Ausrichtung des Staats. Israel wurde zwar von weltlichen Juden gegründet, aber inzwischen hat die anfangs vergleichsweise unbedeutende Gruppe der Ultraorthodoxen an Größe und Einfluss zugenommen. »Es war ein Sieg für uns«, sagt Bar Adam. Sie erlebte nicht zum ersten Mal, dass es zu Protesten kam. »Schon im Mai, am Vorabend des Eurovision Song Contest, gab es Proteste verschiedener religiöser Gruppen. Um unser Café zu schützen und unseren weltanschaulichen Standpunkt zu demonstrieren, haben wir entsprechend reagiert.«

Dort, wo Ultraorthodoxe unter sich sind, ist die Einhaltung strenger Vorschriften und auch die Geschlechtertrennung üblich. Im Bus müssen die Frauen beispielsweise hinten sitzen. In den letzten Jahren versuchen die Ultraortodoxen jedoch, ihre Moralvorstellungen auch auf Bereiche außerhalb ihrer Gemeinschaften auszudehnen.
Seit den Anfängen des Zionismus – eine von säkularen Juden gegründete Bewegung zur Schaffung eines jüdischen Nationalstaats im zunächst ­türkisch, dann britisch beherrschten Palästina – sprechen sich viele Haredim gegen dieses Projekt aus, da sie darin eine Gefahr für ihre Form des streng religiösen Judentums sehen. Weltweit sind sie auch heute noch in ihrer Haltung zu Israel gespalten. Manche Gruppierungen lehnen den jüdischen Staat in seiner heutigen Form ab, da ein solcher – nach ihrer Auffassung – nur durch den Messias wiederentstehen darf.

 

Dem Café Bastet mag ein Punktsieg gelungen sein, doch viele liberale ­Israelis sind davon überzeugt, dass der Konflikt mit den immer mächtiger werdenden Religiösen zukünftig in vielen Bereichen eskalieren wird. Denn obwohl die »Gottesfürchtigen« derzeit nur zwölf Prozent der Bevölkerung ­ausmachen, sind sie – bei durchschnittlich 6,5 Kindern pro Familie – die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Israel und könnte bis 2065 ein Drittel aller Staatsbürger ausmachen. Insgesamt besteht das ultra­orthodoxe Judentum aus verschiedenen Strömungen, die alle die buchstabengetreue Einhaltung der religiösen ­Gesetze fordern. Äußere Einflüsse wie Filme, das Internet oder enger Kontakt mit säkularen Israelis werden ihnen von ihren Rabbinern nicht empfohlen, wenn nicht gar verboten.

»Die wachsende politische Macht der Ultraorthodoxen hat zu Veränderungen in der israelischen Regierungspolitik geführt, die die Wirtschaft und das Sozialsystem belasten«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Dan Ben-David von der Universität Tel Aviv der Jungle World. »Die Einbeziehung religiöser Parteien in israelische Koalitionen hat die nationalen Prioritäten verändert«, sagt er, »enorme finanzielle Investi­tionen zum Aufbau religiöser Siedlungen im Westjordanland gingen einher mit einem erheblichen Geldtransfer an die Haredim, etwa in Form von höheren Sozialleistungen und mehr Subventionen für ihre Schulen.«

Auch die betreffenden Bereiche des Bildungsministeriums bestimmten die Haredim. »Obwohl es zur Aufgabe gehört, die weltlichen und orthodoxen Schulnetzwerke verschiedener Glaubensrichtungen parallel, mit einem begrenzten Maß an Unabhängigkeit und einem gemeinsamen Lehrplan, zu verwalten, gab es in Israel zuletzt mehr Bibelstunden als Mathematikunterrichtet.«

Bei den jüngsten Parlamentswahlen am 9. April erhielten die ultrareligiösen Parteien insgesamt 16 Sitze, ihr bislang bestes Ergebnis. Vor allem die Partei Vereinigtes Tora-Judentum der aus Mittel- und Osteuropa stammenden aschkenasischen Juden sowie die Shas-Partei der religiösen Juden mit hauptsächlich nahöstlich-nordafrikanischem Hintergrund sahen zunächst wie der sichere Koalitionspartner von Ministerpräsident und Wahlsieger Benjamin Netanyahu aus. Doch die Regierungsbildung nach den Wahlen im April scheiterte, weil die säkularen und die religiösen rechten Parteien keine Einigung erreichen konnten. Nun sind für den 17. September Neuwahlen angesetzt. Ob es im Anschluss zu einer erneuten Koalition zwischen den Parteien der Rechten kommen wird, gilt derzeit als ungewiss, der Streit zwischen säkularen und religiösen Parteien könnte entscheiden, welche Regierung gebildet wird.

 

Seit der Gründung des Staates Israel waren religiöse Parteien nahezu ununterbrochen an Regierungen beteiligt. Als 1977 ein rechter Block unter Führung von Menachem Begins Partei Likud an die Macht kam, gewannen sie politisch an Bedeutung. Seitdem gelten die religiösen Parteien als enge Verbündete des Likud. Einer der Gründe für diese Allianz ist die Wahrnehmung, dass die Linke den Staat nach progressiven, liberalen Vorstellungen säkularisieren wolle. Auch befürworten viele, wie die sogenannten Nationalreligiösen, eine vollständige Besiedelung des von ihnen beanspruchten Teils von »Eretz Yisrael« im Westjordanland, und etwa 30 Prozent der dortigen Siedlerbewegung sind ultraorthodox geprägt.

Doch auch während der ersten 29 Jahre nach der Staatsgründung, als die ­israelischen Sozialdemokraten an der Macht waren, gehörten religiöse Parteien zu den von den linken Parteien dominierten Koalitionen. So verein­barte Israels erster Premierminister David Ben Gurion 1948 den bis heute gültigen Status quo des Verhältnisses zwischen Religion un Säkularität ­innerhalb des Staates. Der Staat gewährte den Haredim – die damals nur einen kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachten – die Befreiung vom Militärdienst, damit sich die Angehörigen dieser Gruppe ganz auf jüdische Studien konzentrieren konnten.

Das Oberste Rabbinat Israels, bestehend aus zwei je für zehn Jahre gewählten Rabbinern, erhielt die staatliche Zuständigkeit für zahlreiche Aspekte des jüdischen ­Lebens in Israel. Diese umfasst Fragen des Personenstands, wie jüdische Ehen und jüdische Scheidungen sowie jüdische Bestattungen, Übertritte zum Judentum, Koscherzertifikate, jüdische Einwanderung nach Israel, die Aufsicht über jüdische Heiligtümer, der Betrieb der rituellen Bäder, die Schulen der Ultra­orthodoxen und die Aufsicht über die Rabbinischen Gerichte in Israel.

 

Die Rabbinischen Gerichte sind Teil des israelischen Rechtssystems und werden vom Ministerium für Religiöse Dienste verwaltet. Die Gerichte haben die ausschließliche Zuständigkeit für die Eheschließung und Scheidung von ­Juden und sind parallel zu den Bezirksgerichten in Fragen des Personenstands, des Kinderunterhalts, des Sorgerechts und der Erbschaft zuständig. Religionsurteile werden – wie die das Zivil­gerichtssystems – von der Polizei, den Staatsanwälten und Gerichtsvoll­ziehern und anderen Stellen vollstreckt.

»Ich bin zuversichtlich, dass die Haredim in die israelische Wirtschaft und Gesellschaft integriert werden können, wenn sie innerhalb dieser Systeme Autonomie erlangen und gleichzeitig von Leistungen dieser Einbindung profitieren«, sagt Gilad Malach vom Israel ­Democracy Institute der Jungle World.

Die Frage der Befreiung von der Wehrpflicht erregt bei vielen Israelis die Gemüter, da bislang kaum Ultra­orthodoxe in der israelischen Armee dienen. Auch gingen bis vor kurzem nur 50 Prozent der ultraorthodoxen Männer überhaupt einer Beschäftigung nach. Die Regierung unterstützt sie mit Steuererleichterungen und hohen Sozialleistungen. »In den letzten Jahren sind hier Veränderungen zu erkennen«, sagt Malach, »viele Haredim besuchen eine Universität und auch ihre Beschäftigungsquoten steigen, vor allem im Hightech-Sektor. Auch leisten immer mehr von ihnen Militärdienst.«

Während viele in Israel den Konflikt mit den Palästinensern als den bestimmenden Kampf ihres Landes betrachten, fürchtet sich Mika Bar Adam vom Café Bastet vor den gesellschaftlichen Zerwürfnissen zwischen religiösen und weltlichen Israelis: »Sollte die ultraorthodoxe Bevölkerung weiter wachsen, dann könnte in Zukunft das bisherige Verhältnis zwischen religiösen und ­säkularen Juden gefährdet sein.« Für Adam könnte die israelische Gesellschaft dann einen Punkt erreichen, an dem das Gleichgewicht zwischen den jüdischen Gemeinden nicht länger Bestand hätte. »Solange die Ultraortodoxen weiterhin die Macht haben, Koalitionen und Regierungen zu bilden, werden sie im Grunde das bekommen, was sie wollen«, sagt sie und warnt: »Irgendwann wird die Situation eskalieren.«