Donatella Di Cesare über die Regierungskrise in Italien

»Eine tiefe Krise der Demokratie«

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Interview Von

Würden Sie den heutigen Souveränismus als spezifisch italienisches Phänomen beschreiben?
Der Souveränismus ist nicht in Italien erfunden worden. Was man aber ­besonders im vergangenen Jahr beobachten konnte, ist, dass sich dort die souveränistische Rhetorik und Politik radikalisiert haben. Das unterscheidet Italien zumindest von den Ländern, in denen die Souveränisten nicht an der Macht sind. In der politischen Debatte ist diese Radikalisierung sogar weiter fortgeschritten als in Ländern, in denen die Souveränisten regieren, etwa in ­Ungarn.
Das alles verbindet sich mit einem gesellschaftlich weit verbreiteten ­Rassismus sowie – und das ist in meinen Augen eine italienische Besonderheit – mit einer fundamentalen Opferhaltung. Die Italiener sehen sich nicht als Täter. Das bedeutet für das Narrativ über die faschistische Vergangenheit eine Art selbsterteilten Freispruch, nach der Devise: »Wir waren nicht für die Rassen­gesetze und die Deportationen verantwortlich, die Deutschen waren schuld.« Heutzutage sehen sich die Italiener erneut als Opfer, diesmal der EU, ihrer Wirtschafts- und ganz besonders Migrationspolitik. Dabei ist Italien auch hier Täter, denken wir nur an die unsäglichen Vereinbarungen zwischen der italienischen Regierung und der libyschen Küstenwache, um Fluchten per Boot über das Mittelmeer zu verhindern. Der moderne Souveränismus speist sich aus dieser Opferhaltung, der Slogan »Italiener zuerst!« ist deren deutlicher Ausdruck.

Wer trägt in Ihren Augen am meisten Verantwortung für den Aufstieg der Lega? Die Demokratische Partei (PD), die sich nach den Wahlen 2018 kategorisch weigerte, eine Koalition mit dem M5S zu bilden, oder der M5S, der sich auf eine Allianz mit Salvini eingelassen hat?
Die Verantwortung tragen beide Parteien. Der M5S ist verantwortlich dafür, den Regierungsvertrag mit der Lega unterzeichnet und damit seine linke Wählerschaft betrogen zu haben. Denn wir sollten nicht vergessen, dass ein erheblicher Teil der Stimmen für den M5S bei der Wahl 2018 von links kam. Für diese Wähler, die den M5S gewählt haben und sich dann an der ­Regierung mit Salvini wiederfanden, war das traumatisch. Wenn wir heute wählen würden, das sagen viele Umfragen, bekäme der M5S nur noch rund halb so viele Stimmen wie damals.

Was aber nicht bedeutet, dass der PD doppelt so viele Stimmen bekäme.
Richtig. In Italien ist die Lage der Linken desolat. Es gibt radikale Kräfte, die ­völlig zerstritten, desorientiert und folglich politisch irrelevant sind. Die Demokratische Partei befindet sich historisch in einer tiefen Krise: Einerseits will sie eine liberale Partei werden, andererseits überleben noch stark ­soziale Komponenten in ihr. Es ist eine Partei, die sich die soziale Frage von den Populisten wegnehmen ließ und jetzt diesem Populismus nichts zu ­entgegnen hat. Auch in der Migrationspolitik hat sich der PD die Agenda von den populistischen Rechten diktieren lassen und Parolen und eine ­Haltung toleriert, die zutiefst menschenfeindlich sind. Es ist kein Wunder, dass viele linke Wähler desorientiert sind.