»Gloria Bell« Sebastián Lelio

Sie tanzt und tanzt und tanzt

Sebastián Lelios Film »Gloria Bell« mit Julianne Moore in der Hauptrolle ist kein gewöhnlicher Liebesfilm, dafür aber ein Film über das Gewöhnliche.

»I’ll go my way by myself, like walking under the clouds«, singt der vergessene Star Tony Hunter (Fred Astaire) in der ersten Nummer des Musical-Films »The Band Wagon« (1953), während er in New York, wo er gera­de angekommen ist, einen Bahnsteig entlanggeht. Tatsächlich aber, so der US-amerikanische Philosoph Stanley Cavell in seiner Deutung der Szene, »geht« Astaire nicht, sondern er schwebt geradezu.

In keiner Einstellung der ohne Schnitt gezeigten Bildfolge sind seine Füße zu sehen, das Schwingen der Arme und des Oberkörpers ist leicht überakzentuiert, die Bewegungen sind elegant und fließend, aber dennoch Resultat äußerster Anspannung, so als würde Astaire jeden Moment zu tanzen beginnen. Weder das Singen, noch der Hauch des Tänzerischen im Gang Astaires sind in der fiktionalen Welt des Films sichtbar; niemand reagiert in irgendeiner Weise auf ihn. Für die Zuschauer aber, so Cavell, trete durch diese Form der Darstellung etwas zutage, das ihnen normalerweise entgeht: nämlich das Gewöhnliche.

Eine ähnliche Art, das Gewöhnliche zu inszenieren, also das Alltägliche durch die Überführung in eine ästhetische Form zur Schau zu stellen, leistet auch das US-amerikanische Remake des 2013 veröffentlichten chilenisch-spanischen Films »Gloria« von Sebastián Lelio, der bereits im März in den USA unter dem leicht erweiterten Titel »Gloria Bell« in die Kinos gekommen ist. Auch Gloria Bell, die von Julianne Moore bezaubernd gespielte Protagonistin, tanzt.

Realismus des Gewöhnlichen

Gloria ist Mitte 40 und seit zwölf Jahren geschieden, die beiden Kinder, gespielt von Michael Cera und Caren Pistorius, sind bereits ausgezogen. Gloria tanzt in Etablissements, die für Berufsjugendliche, die Tanzen nur als das monotone Schwingen der Arme in einem vernebelten Technokeller kennen, vermutlich der Inbegriff der Spießigkeit sind. Hier treffen sich in die Jahre gekommene alleinstehende Männer und Frauen und ältere Paare, die sich gemeinsam vergnügen. Dabei kommt es zu mal mehr und mal weniger eleganten, dabei aber niemals respektlosen Flirtversuchen beider Geschlechter, während aller Wahrscheinlichkeit nach teure Drinks getrunken werden. Die Atmosphäre wirkt entspannt, die Rituale der Kontaktaufnahme scheinen allen Beteiligten bekannt.

Der Kontakt mit Männern scheint für Gloria allenfalls ein Nebeneffekt zu sein, nicht aber der Zweck der Tanzabende. Und so erzählt der Film fast schon nebensächlich die verhältnismäßig kurze Geschichte einer späten, weder lang ersehnten noch vehement abgewehrten Liebe zwischen Gloria und dem ungelenken, ebenfalls geschiedenen Arnold (John Torturro).

Der Film besticht durch einen Realismus des Gewöhnlichen, dem es weder um eine drastische oder unverstellte Darstellung geht noch darum, eine alltägliche Handlung schlicht als »interessant« herauszustellen, sondern eher um ein mimetisches Anschmiegen an die Wirklichkeit. Durchschnittlich ist das sprichwörtlich »mittlere« Alter der Protagonisten, die alle ein geregeltes Leben in der ökonomischen und kulturellen Mittelklasse – oder Klasse des Mittelmaßes – führen, wo Scheidung und Wiederheirat zur Normalität gehören.

Undramatische Klänge

Sicherheit (des Einkommens und der Familie) und Absicherung (des relativen Wohlstandes) sind die Koordinaten dieser gewöhnlichen Existenzen; entsprechend arbeitet Gloria als Angestellte bei einer Autoversicherung. Dass die bürgerliche Gesellschaft, die in der Welt des Films so nicht genannt wird, »komplex« ist, weiß man, aber allzu viel hat das mit den Figuren nicht zu tun. »Ich verstehe die Börse nicht«, sagt eine Freundin Glorias in einer Szene lax. Was sie hingegen interessiert, sind die Schwankungen in ihrem Rentensparplan.

Gewöhnlich sind auch die Tätigkeiten, die der Regisseur Sebastián Lelio in Szene gesetzt hat. Autofahrten, das Falten der Wäsche, das präkoitale Ablegen eines Bauchgürtels, den Arnold nach einer Magenoperation tragen muss und mit dessen Hilfe es ihm gelang, sein Übergewicht loszuwerden. Vorsichtige, ungelenke Gespräche, als sich Gloria und Arnold kennenlernen, stockend und ohne die geschliffene Intonation und Rhyth­mik sonstiger Filmdialoge. Arnolds Frage an Gloria – »Bist du immer so glücklich?« – und ihr »Nein« als Antwort unterstreichen das Alltägliche nur umso mehr.

Dass in der ersten Hälfte des Films im Grunde keine untermalende Musik gespielt wird – außer der Musik, die Gloria im Auto, im Tanzlokal oder in ihrer Wohnung hört –, ist Teil des Konzeptes des Soundtracks, das dem britischen Produzenten Matthew Herbert zu verdanken ist. Erst als Gloria Arnold kennenlernt, mithin in Situationen, in denen das Gewöhnliche durch das Außergewöhnliche kontrastiert wird, beispielsweise in Momenten von sich zu Liebe steigernder Sympathie, arbeitet Herbert mit gedämpften, undramatischen Klängen, ohne dass die Musik in diesen Passagen zum emotionalen ­Steroid oder bedingten Reiz für die Zuschauer wird.

Vom Liebesfilm als Genre scheint man heutzutage kaum mehr zu sprechen – und ob »Gloria Bell« in diese Kategorie fallen würde, ist ohnehin fraglich. Bemerkenswerterweise stellen die üblichen Genreregeln eher formalisierte affektive Strukturen in den Vordergrund als den Inhalt: das im Englischen so bezeichnete »Drama« ebenso wie die Akzentuierung des Lustigen in der »Romantic Comedy«.

Verunsichert und gebrochen

»Gloria Bell« präsentiert die Liebe als scheiternde, sie steht im Verlauf des Films in der Mitte, bildet also nicht den Höhepunkt. Die Gründe, warum sie scheitert, sind allenfalls in der Innenperspektive der Charaktere »dramatisch«, eigentlich sind auch sie gewöhnlich und haben nicht zuletzt mit der äußerst zeitgemäßen Darstellung des Geschlechterverhältnisses zu tun.

Gebrochen, unselbständig und verunsichert sind vor allem die Männer. Arnold kann sich dem Zugriff seiner beiden Töchter nicht entziehen, für die er sich nach der Scheidung über alle Maßen verantwortlich fühlt; die Beziehung von Glorias Sohn zerbricht, die Kinder­betreuung überfordert ihn; Glorias Ex wiederum lässt es sich nicht nehmen, in Anwesenheit seiner neuen Frau gegenüber Arnold die Dominanz des zuerst Dagewesenen geltend zu machen. Arnolds ständige Anrufe, als das Verhältnis mit Gloria in die Krise gerät, werden nicht als romantische Geste verklärt, sondern als das gezeigt, was sie in vielen Fällen sind: Akte der Hilflosigkeit am Rande der Belästigung.

In die Ranglisten der beliebtesten Liebesfilme düfte ein Werk wie »Gloria Bell« freilich nicht kommen; dort stehen immer noch Filme, die mehr als 60 Jahre alt sind. Ein Ranking des American Film Institute aus dem Jahr 2002 führt auf den Plätzen eins und zwei »Casablanca« und »Vom Winde verweht«, der jüngste unter den ersten zehn Filmen ist »So wie wir waren« von 1973. Ebenso gibt es nur in drei Filmen der Top Ten ein sogenanntes Happy End, was als Indiz dafür gelten kann, dass am Liebesfilm weniger die Aussicht auf das Moment des Glücks fasziniert, sondern eher die Lust an der Dramatik, die dem Gewöhnlichen gerade abgeht. So antiklimaktisch wie die Struktur des Alltags ist auch »Gloria Bell«; gleich einem zögerlich vollendeten Kreis endet der Film, wie er begann: Gloria tanzt.

Gloria – Das Leben wartet nicht. USA 2018. Buch: Alice Johnson Boher, Sebastián Lelio, Gonzalo Maza. Regie: Sebastián Lelio. Darsteller: Julianne Moore, John Turturro. Ab 22. August in den deutschen Kinos