Filmfestival in Locarno

Konstruierte Orte

Das Thema Wohnen spielte bei einigen der interessantesten Beiträge des 72. Filmfests von Locarno eine wichtige Rolle.

»Every brick was put down by a hand«, heißt es zu Beginn des filmischen Essays »Still/Here« (2000), und es scheint, als finde der Satz in gleich mehreren Filmen, die auf dem 72. Locarno Film Festival unter der Leitung der neuen Direktorin Lili Hinstin ­gezeigt wurden, seinen Nachhall. In grobkörnigen Schwarzweißbildern erkundet der afroamerikanische Experimentalfilmer Christopher Harris in dem erst jüngst (wieder-)entdeckten Film die Ruinenlandschaften des nördlichen St. Louis, einer einst ­lebendigen Gegend, die vor allem von Arbeitern und verarmten Schwarzen bewohnt wird. Während die Kamera ausgeweidete Gebäude und Bauskelette in den Blick nimmt, lässt die Tonspur mit Schritten, Telefonklingeln, Haushaltsgeräuschen das ­verschwundende Leben dieser Orte wiederauferstehen. »Still/Here« war im Rahmen der Retrospektive zum Black Cinema zu sehen.

Motive des Films wie Verelendung, Marginalisierung und Wohnen finden sich auch in den Beiträgen des Wettbewerbs, etwa in Joe Talbots Spielfilmdebüt »The Last Black Man in San Francisco« (2019). Ein viktorianisches Haus im Fillmore District, ­einem ehemaligen Viertel der schwarzen Mittelschicht: ein Sehnsuchts- und Erinnerungsort, aber eben auch ein Objekt, wie es den Mächtigen des Immobilienmarkts gefällt. Jimmie Fails (gespielt von Jimmie Fails), ein vorübergehend wohnungsloser Krankenpfleger, lebt provisorisch bei seinem Freund Mont in einer ärmlichen Gegend, die der Bus nur unzuverlässig erreicht (was dem Film wunderschöne Skateboard-Szenen durch die Horizontalen und Vertikalen der Stadt beschert).

Jimmie träumt davon, eines Tages in das Haus seines verstorbenen Großvaters zurückzukehren, das sein Vater vor vielen Jahren verlor und das nun von einem weißen Ehepaar bewohnt wird. »The Last Black Man in San Franciso« ist trotz seiner Gentrifizierungskritik ein betont ungrimmiger, mitunter märchenhafter Film in warmen Farben und weichem Licht. Talbot, ein weißer Filmemacher (und Fails Jugendfreund), geht es nicht um die Bewahrung konservativer Werte (there’s no place like home), sondern um die Erkundung eines in der Kindheitserinnerung konstruierten Phantasieorts.