Machtkampf in Albanien

Wer braucht schon Parteien

In Albanien rivalisieren die Sozialistische und die Demokratische Partei seit dem Ende des Realsozialismus. Doch junge Linke setzen ihre Hoffnungen nun in neue Basisgewerkschaften.

Wenn in Albanien Wahlen anstehen, bekommen das auswärtige Besucher meist auf den ersten Blick mit. Mit Plakaten und Graffiti versuchen die Parteien, ihre Anhänger zu mobilisieren. Vor den Kommunalwahlen am 30. Juni sah das anders aus: nirgendwo Wahlwerbung. Stattdessen versuchte die oppositionelle Demokratische Partei (PD), die Wahlen zu verhindern, während Ministerpräsident Edi Rama von der regierenden Sozialistischen Partei (PS) darauf beharrte, sie abzuhalten.

»Es war einzigartig, zu erleben, wie die Bewegung die Regierung, die völlig hilflos auf die Proteste reagierte, vor sich hergetrieben hat.«­

Im Februar hatten die Abgeordneten der Opposition ihre Mandate im albanischen Parlament niedergelegt. Seither versucht die PD durch Großkundgebungen den Rücktritt der Regierung zu erzwingen. Der Konflikt zwischen PS und PD bestimmt seit dem Ende der realsozialistischen Diktatur die Politik in dem Balkanland. Dass die PD den Konflikt wieder auf die Straße getragen hat, hat vordergründig mit kriminellen Verstrickungen der Regierung zu tun. Im Dezember machte der Radiosender »Voice of America« Recherchen der Journalistin Klodiana Lala öffentlich, wonach vor den Parlamentswahlen 2017 die PS im Zusammenspiel mit Gruppen der organisierten Kriminalität Stimmen gekauft und Wähler bedroht habe. Die albanische Polizei habe Gespräche aufgezeichnet, die dies belegten.

Dass es Verbindungen zwischen der Regierung und den Gangs gibt, die Albanien zum wichtigsten europäischen Cannabis-Produzenten gemacht haben, wird in Tirana von kaum jemandem bezweifelt. Doch neben diesem Anlass hat die PD auch eigennützige Gründe, die Legitimität der Regierung in Frage zu stellen. Seit sieben Jahren regiert die PS und baut ihre Macht weiter aus. Im klientelistischen Politikbetrieb Albaniens, in dem Parteien Zustimmung dadurch gewinnen, dass sie ihren Anhängern Vergünstigungen zukommen lassen können, ist ein langanhaltender Ausschluss von der Macht und vom Zugang zu staatlichen Ressourcen gefährlich. Und es gibt einen weiteren Grund, warum die PD im Februar die Konfrontation mit der Regierung auf der Straße gesucht haben dürfte: Im Winter 2018/2019 erschütterten die größten Studierendenproteste seit 1991 – damals markierten sie das Ende des Realsozialismus – das Land. Sie richteten sich unter anderem gegen die Erhöhung von Prüfungsgebühren. Rama sah sich unter ihrem Druck im Dezember 2018 dazu gezwungen, acht Minister auszutauschen.

Die Studierenden sollen es richten

Plakat gegen Tiranas Bürgermeister Veliaj.

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Peter Korig

In einem der flachen, zweistöckigen Gartenhäuser, die noch vor zehn Jahren die Altstadt Tiranas prägten, nun aber immer öfter Hochhäusern weichen, betreibt die kleine linke Gruppe Organizata Politike (Politische Organisation, OP) ein Soziales Zentrum. Der Bauboom zwang die Gruppe seit 2017 schon zweimal zum Umzug. Im Hof des Zentrums schwärmen junge Linke von den Demonstrationen im Winter. Mirela Ruko, die der OP nahestehenden Lëvizja për Universitetin (Bewegung für die Universität, LPU) angehört, erzählt, wie überwältigend die Erfahrung gewesen sei, auf einmal und überraschend Teil einer riesigen Menschenmenge zu sein, die für ihre eigenen Interessen auf die Straße geht – ohne Instrumentalisierung durch eine der großen Parteien. »Es war einzigartig, zu erleben, wie die Bewegung die Regierung, die völlig hilflos auf die Proteste reagierte, vor sich hergetrieben hat. Das Besondere dieser Situation haben auch viele Menschen außerhalb der Universitäten erkannt«, so Ruko. Die Umstehenden bestätigen: Zwar seien die meisten Menschen selbst inaktiv geblieben, hätten aber sehr große Hoffnungen in die Studierenden gesetzt und die ­Aufgabe der politischen Veränderung an sie delegiert. »Immer wieder wurden wir von Menschen auf der Straße angesprochen, dass wir Studierenden jetzt das auf Korruption und Klientelismus beruhende politische System überwinden müssten«, erzählt eine Aktivistin.

Den weitverbreiteten Frust über die desolate ökonomische Lage des Landes und eine politische Führungsschicht, die nicht einmal mehr versucht, sich von einer Räuberbande zu unterscheiden, wollte die PD offenbar für sich nutzbar machen. Mitte April gründete die PD mit sieben anderen Parteien, als wichtigste davon die Lëvizja Socialiste për Integrim (Sozialistische Bewegung für Integration, LSI), eine Abspaltung der PS, der der Staatspräsident Ilir Meta angehört, ein Bündnis. Bevor Wahlen nicht frei und fair seien, wollen diese Parteien nicht an ihnen teilnehmen; freie und faire Wahlen könne es nur mit einer Übergangsregierung geben, der Rama nicht angehöre – die Kommunalwahlen am 30. Juni wurden daher vom Bündnis boykottiert. Ein gesellschaftlicher Aufbruch war mit der Gründung dieses Bündnisses nicht verbunden. Adressaten seiner Aktivitäten waren auch eher die USA und die EU, die dazu gebracht werden sollen, der Regierung Rama die Unterstützung zu entziehen.

Die Situation verschärfte sich Anfang Juni, nachdem die deutsche Boulevardzeitung Bild Mitschnitte von ­Telefonaten veröffentlicht hatte, die die Beteiligung der PS an Wahlfälschungen 2017 belegen sollen. Die Veröffentlichungen nahm nahezu ganz Albanien zur Kenntnis. Am 8. Juni erließ Präsident Meta ein Dekret, das eine Verschiebung der Wahlen anordnete. Ministerpräsident Rama weigerte sich, das Dekret des Präsidenten umzusetzen, und ließ die Wahlvorbereitungen weiterlaufen. Die Opposition erklärte, die Wahlen verhindern zu wollen. Es kam zu Brandanschlägen auf Wahllokale. In einzelnen von der PD regierten Kommunen kam es zu Zusammenstößen zwischen lokalen und zentralstaatlichen Polizeieinheiten.

Auf Gras gebaut

»Drei Parteien, eine Oligarchie«

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Peter Korig

Fünf Tage vor dem Wahltermin Ende Juni treffen sich rund 100 vor allem junge Menschen am Denkmal für den unbekannten Partisanen im Zentrum Tiranas. Viele der Teilnehmenden begrüßen sich mit der auf PD, PS und LSI bezogenen Parole »Tre parti – një oligarki!« (»Drei Parteien – eine Oligarchie!«) Die Mitglieder von OP haben sich angesichts der angespannten Lage entschieden, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Allerdings nicht unter der Parole der Opposition, »Rama ik!« (»Rama geh!«), sondern mit dem Slogan »Lufta e bandave partiake nuk është lufta jonë!« (»Der Kampf der Partei-Banden ist nicht unser Kampf!«) Es sind vor allem Rednerinnen, die bei der Kundgebung auftreten. Die Studierendenproteste haben viele Jugendliche politisiert, die Mitgliederzahl der OP hat sich verdreifacht. Und es waren vor allem junge Frauen, die im Winter gegen Studiengebühren, Korruption an den Hochschulen und schlechte Zukunftsaussichten auf die Straße gingen. »Einer der Gründe dafür ist, dass sie von hohen Studiengebühren und den dadurch bedingten Problemen, ein Studium abzuschließen oder überhaupt zu studieren, besonders betroffen sind. Denn für viele junge Frauen bedeutet das immer noch, früh heiraten zu müssen und auf ein selbstbestimmtes Leben zu verzichten«, sagt Arlind Qori, eines der ältesten Mitglieder von OP.

»Der Staat vermeidet es, Aktivisten in Haft zu nehmen. Stattdessen will man mit relativ hohen Bußgeldern vor allem junge Menschen.

In den Redebeiträgen wird kritisiert, dass alle politischen Parteien in den vergangenen drei Jahrzehnten dazu beigetragen hätten, dass ein großer Teil der albanischen Bevölkerung in Armut lebe und unter erbärmlichen Umständen arbeiten müsse, während andernorts große Reichtümer angehäuft worden seien. Symptomatisch für die schlechten Arbeitsbedingungen ist der Fall von Ardit Gjoklaj. Der 17jährige arbeitete auf einer städtischen Mülldeponie und kam 2016 wegen ungenügender Arbeitsschutzmaßnahmen ums Leben. Auf einem der Transparente auf der Kundgebung wird Erion Veliaj, der Bürgermeister Tiranas, für den Tod des Jugendlichen verantwortlich gemacht.

Veliaj hat eine für osteuropäische Verhältnisse nicht unübliche Karriere hinter sich. Nach einem Studium in den USA und Großbritannien gründete er 1993 die Bürgerbewegung »Mjaft!« (Genug!), die sich gegen Korruption und Rückständigkeit und für eine moderne Zivilgesellschaft einsetzte. Der Erfolg von Mjaft eröffnete ihm 2011 den Weg zu einer Parteikarriere bei den damals noch oppositionellen Sozialisten. Nach der Wahl Ramas zum Ministerpräsidenten im Jahr 2013 wurde Veliaj Minister für Jugend und Soziales, 2015 wechselte er in das Amt des Bürgermeisters von Tirana. Heutzutage gilt er als »Kronprinz« Ramas.

Die Kritik am Bürgermeister macht die anwesenden Polizisten nervös. Während der Kundgebung fordern sie immer vehementer, wenn auch erfolglos, das Transparent abzunehmen. Am Ende wird ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen Umweltschutzvorschriften verhängt: Die Bindfäden, mit denen das Transparent an den Bäumen befestigt war, hätten diese beschädigt. Wie absurd diese Entscheidung ist, wird bei einem Blick in die Umgebung noch deutlicher. Allerorten schießen in Tirana Hochhäuser in die Höhe, werden ohne Rücksicht auf die Umwelt oder die Gesundheit der Stadtbevölkerung Grünflächen beseitigt. Aktivisten, die sich kritisch mit der Stadtentwicklung Tiranas beschäftigen, behaupten, bei diesen Bauprojekten würden in großem Stil die Gewinne aus der Cannabisproduktion gewaschen. Sicher ist, dass die Bauherren ausgesprochen enge Verbindungen zu Bürgermeister und Regierung pflegen.

Einige Tage später sind weitere Bußgelder fällig. Mitglieder von OP wurden von der Polizei dabei erwischt, wie sie halb Tirana zuplakatieren. Auf den Plakaten macht die Gruppe Bürgermeister Veliaj nicht nur für den Tod Gjoklajs verantwortlich, sondern kritisiert auch die Erhöhung der Tarife für Busse und Wasserversorgung sowie die Zerstörung von Grünflächen und öffentlichem Raum in der Stadt. Innerhalb eines Tages hat die Polizei fast alle Plakate wieder entfernt. Die Gruppe muss insgesamt 800 Euro Strafe zahlen, was zwei bis drei durchschnittlichen Monatslöhnen entspricht. Das ist für die Organisation, die sich vor allem aus Spenden ihrer Mitglieder finanziert, eine enorme finanzielle Herausforderung. »So sieht gerade die Repression gegen die Bewegung aus«, so Qori. »Der Staat vermeidet es, Aktivistinnen und Aktivisten in Haft zu nehmen und so Anlässe für heroische Gesten und Solidarisierungseffekte zu schaffen. Stattdessen will man mit relativ hohen Bußgeldern vor allem junge Menschen einschüchtern.«

Gewerkschaften statt Parteien

Ihnen geht es um mehr als Parteienkonflikte. Kundgebung der Gruppe »Organizata Politike« vor dem Denkmal für den unbekannten Partisanen in Tirana.

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Peter Korig

Am 30. Juni bleibt es dann doch friedlich. Im Wahllokal in der Musine-Kokalari-Schule in Tirana hält sich der Andrang in Grenzen. Die Stimmung ist entspannt, dennoch erlaubt der Wachmann vor der Schule keine Fotos. Am Vortag hat es in dieser Gegend einen Zusammenstoß zwischen Anhängern der PD und der Polizei gegeben. Die Schule ist nach einer linken Schriftstellerin und ersten Albanerin, die ein Buch veröffentlichen konnte, benannt, die nach einem Schauprozess 1946 bis zu ihrem Tod 37 Jahre in Haft und Verbannung verbringen musste, und liegt im legendären Stadtteil Kombinat. Einst als Planstadt für die Beschäftigten des Textilkombinats »Josef Stalin« errichtet, war er Modell und Symbol für die unter der Diktatur Enver Hoxhas angestrebte Indus­trialisierung Albaniens. Die Fabrikhallen liegen ausgeplündert brach.

In einem anderen einstigen sozialistischen Vorzeigeviertel Tiranas hat sich vor dem Büro der PD eine Gruppe Männer um die 50 Jahre versammelt. »Rama – Kommunist« und »Rama – kriminell« rufen sie. Aus der Menge schält sich ein etwas jüngerer Mann, gut gekleidet und mit betoniertem Seitenscheitel. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Mitarbeiter einer der in Tirana präsenten westlichen Botschaften oder internationalen Institutionen. Es stellt sich heraus, dass er einer der PD-Abgeordneten ist, die im Februar ihr Mandat niedergelegt haben. »Zum ersten Mal seit dem Ende der kommunistischen Diktatur gibt es in Albanien Wahlen, an denen nur eine Partei teilnimmt«, sagt er, und dass der Ministerpräsident des Land wieder in eine Einparteiendiktatur verwandele. Er hoffe auf Unterstützung durch die europäischen Konservativen und darauf, dass es im Herbst endlich wieder ein Verfassungsgericht geben werde, das dann die Wahlen annullieren würde. Doch die Hoffnungen auf antikommunistische Affekte bei den westlichen Mächten dürfte vergebens sein; im Interesse der Stabilität auf dem Balkan, wie der Terminus lautet, stützen EU und USA die Regierung Rama.

Auch die Mitglieder der OP haben sich am Wahltag versammelt. Seit den frühen Morgenstunden harren sie im Sozialen Zentrum aus. Viele der Anwesenden sind durch die Studierendenproteste öffentlich als linke Aktivistinnen und Aktivisten bekannt. »Wir haben Angst, dass Anhänger der großen Parteien uns bedrohen oder angreifen und wollen heute nicht allein zu Hause oder in der Stadt unterwegs sein«, sagt einer von ihnen. Auch im Falle einer Eskalation der Ereignisse wäre es gut, zusammen zu sein, um beraten zu können, wie man mit der Situation umgehe, ergänzt ein anderer. Doch diese Befürchtungen bewahrheiten sich nicht. So schaut man zusammen im Fernsehen die Wahlergebnisse an: Die PS hat bei unter 23 Prozent Wahlbeteiligung gewonnen, die PD erkennt das Ergebnis nicht an. Der ewige Streit zwischen den Parteien geht in eine neue Runde.

Tiranas neues Zentrum. Die Stadt gibt sich modern und international.

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Peter Korig

Den Mitglieder von OP zufolge ist ein Ausweg aus dieser Situation nur durch grundlegende soziale Veränderungen möglich. Um diese zu ermöglichen, setzen die jungen Linken große Hoffnungen in die Arbeiterinnen und Arbeiter. Anfang des Jahres hat sich, unterstützt von OP, die Gewerkschaft Solidariteti gegründet. Als erste Basisgewerkschaft des Landes versucht sie, die circa 25 000 Menschen, die in Albanien in Callcentern vor allem für den italienischen Markt arbeiten, zu organisieren. Dass es gerade die Callcenter sind, die zum Ausgangspunkt einer neuen Gewerkschaftsbewegung werden könnten, ist kein Zufall. Zwar ist die Arbeit in den Callcentern im Vergleich etwa zu der in der Textilindustrie, die ebenfalls für den italienischen Markt produziert, gut bezahlt. Aber der Arbeitsdruck ist Gewerkschaftern zufolge hoch und der Umgang mit den Beschäftigten häufig von Willkür geprägt. Zudem sind viele, die dort arbeiten, jung und gut gebildet und haben im Ausland gelebt. Einen besseren Arbeitsplatz als im Callcenter können Absolventen albanischer Hochschulen dennoch selten erwarten.

Die Idee, eine Gewerkschaft zu gründen, habe es schon vor den Studierendenprotesten gegeben, aber die Aufbruchsstimmung des Winters habe den Prozess beflügelt, sagen Mitglieder der Gewerkschaft. Zwar seien noch nicht alle Formalitäten der offiziellen Registrierung der Gewerkschaft erledigt, aber sie habe ihre ersten Auseinandersetzungen schon erfolgreich geführt. Ansätze zu weiteren Gewerkschaftsgründungen gibt es auch im Bildungssektor und im Bergbau. Vielleicht beginnt hier tatsächlich eine Veränderung, die wich­tiger ist als der mögliche Wechsel der Regierungsparteien.