Massenproteste in Georgien

Explosion der Wut

In der georgischen Hauptstadt Tiflis protestieren Tausende Menschen gegen die Regierung und den Einfluss Russlands. Die scheinbar geschlossen westlich orientierte Gesellschaft ist zerrissen.

Schutzschilde mit der Aufschrift ­»Police« wandern über die Köpfe der Demonstrierenden, werden weitergereicht, verschwinden in der verschwitzten Menge vor dem georgischen Parlament. Sie wurden von Polizisten erbeutet, die das Parlamentsgebäude der ­georgischen Hauptstadt Tiflis verteidigten. Wie die Schilde in die hinteren Reihen wandern, erinnert an Crowdsurfing bei einem Festival. Dann fliegen Flaschen durch die Luft, prasseln auf die Helme der Polizisten. Es ist laut und warm, der Beginn einer Nacht der Gewalt, die nicht folgenlos bleiben wird.

Auslöser  der Proteste war die Rede des russischen Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament am Donnerstag vergangener ­Woche. Dieser gehört der Kommunistischen Partei an und gilt als Unter­stützer der Unabhängigkeit Abchasiens. Gaw­rilow hatte während einer inter­nationalen Tagung den Sitzplatz des georgischen Parlamentspräsidenten eingenommen. Daraufhin wurde im Internet zu abendlichen Protest auf­gerufen. Etwa 10 000 Menschen kamen.

In der Nacht zum Freitag setzte die Polizei in Tiflis neben Tränengas und Schlagstöcken auch Gummigeschosse ein. Es gab mehr als 200 Verletzte, zwei von ihnen verloren ein Auge. »Occupeyed – you can take our eyes, but we see still the truth« (»Besetzt – ihr könnt uns die Augen nehmen, aber wir sehen immer noch die Wahrheit«) ist daraufhin zum Motto der Proteste geworden, die sich gegen die georgische Regierung und Russland richten. Die Demonstrierenden kritisieren den ­russischen Einfluss in ihrem Land und die Regierungspartei Georgischer Traum, die von dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili gegründet wurde.

Georgien und Russland unterhalten seit dem Krieg 2008 keine diplomatischen Beziehungen mehr. Russland kontrolliert die beiden abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien. »Abkhazia is Georgia« oder »Russia go away« ist auf Transparenten der Demonstrierenden zu lesen. Sie schwenken neben georgischen Flaggen auch die der EU und der USA.

Zwei junge Medizinstudenten sind am Freitagabend, dem zweiten Tag der Proteste, gekommen. Doch sie sind nicht nur zum Demonstrieren hier. Sie wollen außerdem helfen, wenn es wieder Verletzte gibt. Georgi und Luka tragen weiße Arztkittel, in ihren Händen halten sie kleine, schwarze Erste-Hilfe-Koffer. »Wir hoffen, dass es nicht wieder so wird wie gestern«, sagt Georgi. Etwa 50 Kommilitonen seien heute Nacht mit ihnen im Einsatz.
Am meisten empört die Studenten der Polizeieinsatz. »Diese Gummigeschosse gehen durch die Haut, das ist brutal«, schimpft Georgi. Es sei eine Schande, wie sich die Einsatzkräfte gegen die eigene Bevölkerung wendeten, sagt er und weist daraufhin, dass es eine solche Gewalt seit acht Jahren nicht mehr gegeben habe. »Uns wurde ein friedvollerer Umgang mit Demonstranten unter der gegenwärtigen Regierung versprochen. Doch dieses Versprechen wurde jetzt gebrochen.«

Obwohl die russische Delegation früher als geplant abreiste und der georgische Parlamentspräsident Irakli Kobachidse bereits zurückgetreten ist, wollen die Menschen auf der Straße weiter protestieren. »Wir wollen Neuwahlen. Die Polizei hat gezeigt, dass diesem Staat nicht zu trauen ist«, sagt Georgi. In der Universität sei er nicht gewesen. »Heute ist kein Tag für Vorlesungen«, meint er und zieht mit seinem Kommilitonen weiter, in Richtung der Menschenmenge.

Auch Nina ist zur Demonstration ­gekommen. Sie steht etwas abseits und betrachtet die Szene. Sie ist Anfang 20 und lesbisch. Sie setzt sich für die Rechte von queeren Menschen ein; diese werden in Georgien regelmäßig von Rechten und Orthodoxen attackiert. »Viele hier in Georgien wollen uns nicht«, sagt Nina. »Selbst meine Mutter hat den Kontakt mit mir abgebrochen, nur weil ich nicht in ihr konservatives Weltbild passe.« Sie sei nach Ansicht ihrer Mutter auch der Grund für die Trennung ­ihrer Eltern, sagt Nina.

Eigentlich hätte an diesem Wochenende die erste Pride-Parade in Tiflis stattfinden sollen. Die Regierung schien davon wenig begeistert und erklärte ­lapidar, die Sicherheit der Teilnehmer nicht garantieren zu können. »Auch LGBT-Aktivisten sehen die Parade kritisch, weil sie polarisiert«, sagt Nina. Sie erzählt, dass gerade erst das geheime Büro der Organisatoren der Pride-Parade geräumt werden musste, weil diese Morddrohungen erhalten hätten. »Auch deshalb gehe ich heute auf die Straße – für eine freie und tolerante Gesellschaft.« Die Behauptung der ­Regierung, die Sicherheit der Pride-Parade nicht gewährleisten zu können, lässt sie nicht gelten: »Die Polizei war ja jetzt zur Stelle, um gegen friedliche Menschen vorzugehen. Dann ist sie also einsatzbereit.«

Wie zerrissen das Land derzeit ist, zeigt sich auch wenige Minuten später beim Gespräch mit Levan. Wie die meisten Menschen über 40 ist der Taxifahrer empört über die Gewalt – und meint damit die Demonstrierenden. »Wie kann man nur das Parlament stürmen wollen? Die wissen nichts mit sich anzufangen«, schimpft er. »Seit dem Zerfall der Sowjetunion wurde das ganze Land heruntergewirtschaftet. Das einzige, was funktioniert, ist hier der Tourismus. Und die Touristen kommen aus Russland. Wir richten uns mit diesen Protesten selbst hin.« ­Damit spielt er auch auf den Beschluss des russischen Präsidenten Wladimir Putin an, die Flugverbindungen nach Georgien ab dem 8. Juli einzustellen.

Gerade die Jüngeren aber wünschen sich einen Beitritt zur EU und zur Nato als Schritte zu mehr Freiheit und Toleranz im Land. 70 Jahre lang hatte es zur Sowjetunion gehört, nachdem die Rote Armee das sozialdemokratisch ­regierte Georgien 1921 erobert hatte. »Es stehen bei uns zwei Sichtweisen gegeneinander, die gestrige russische und die fortschrittliche europäische«, findet Natalia Antelava, georgische Journalistin und Mitorganisatorin des »Story­telling Festivals«, das internationale Medienschaffende zum Austausch ­einlädt. Das Festival begann am selben Tag wie die Proteste. Sie selbst sei nicht überrascht von diesen. »Ich bin damit aufgewachsen. Manchmal frage ich mich, wie oft wir das noch machen müssen.« Das Ziel des Storytelling Festivals sei auch, Georgien und den Rest der Welt zusammenzubringen. Antelavas Interesse gilt dem Westen.

»Georgier teilen absolut die westlichen Werte«, sagt sie und verweist auf die ­liberale erste Verfassung von 1918. »Trotzdem sind wir ein konservatives Land im Transformationsprozess.« Was in diesen Tagen besonders deutlich wird: Georgien durchlebt einen Wandel, und der Westen ist zwar reizvoller, aber Russland ist näher.