Was der Stonewall-Aufstand heute bedeutet

Ein großer Wurf

Statt danach zu fragen, wer vor 50 Jahren bei den Stonewall Riots den ersten Stein warf, sollten wir lieber feiern, was damals begann: die Solidarität zwischen queeren Menschen und der Kampf für gleiche Rechte.

Wer warf den ersten Stein? Eine Frage, die seit Jahrzehnten gestellt und nun anlässlich des 50. Jahrestages der Stonewall-Aufstände umso vehementer thematisiert wird. Danach zu fragen, wer den ersten Stein am Abend des 27. Juni 1969 im New Yorker Stadtteil Greenwich Village in der Christopher Street als Gegenwehr auf die angerückte Polizei schmiss, wird zum politischen Statement. Dass sich die Einsatzkräfte mit einer Razzia gegen die vornehmlich von Schwulen, Lesben, Transidenten und Transves­titen besuchte Kaschemme Stonewall Inn (wobei es bereits darüber, welche Menschen diese Bar besuchten, Streitigkeiten gibt) richteten, tritt in den Hintergrund, die Frage, wem eigentlich Stonewall »gehöre«, führt zu Selbstbespiegelung. Im Vordergrund steht, wer von den sogenannten Stonewall-heroes und -veterans, wie sie in den USA genannt werden, zu Recht als solcher bezeichnet wird. Im Jahr 2015 gab es einen Shitstorm gegen Roland Emmerichs Film ­»Stonewall«, hier regte sich Protest gegen die Darstellung eines weißen, blonden, blauäugigen Cis-Schwulen, der den ersten Stein warf. Im Jubiläumsjahr geht die Auseinandersetzung in eine neue Runde. So wird die Geschichte zu nichts anderem als einer weiteren Möglichkeit zum »politischen« Schaulaufen für das gekränkte Ego benutzt. Während man um Anerkennung durch eine vermeintlich richtige Geschichtsschreibung ringt, rücken die Proteste von 1969 und das, wogegen diese sich richteten, in den Hintergrund.

Sich öffentlich zum Schwulsein und Lesbischsein zu bekennen und dabei ein Kollektiv hinter sich zu wissen, war eine neue und lebensgeschichtlich bahnbrechende Erfahrung.

Wer den ersten Stein warf und damit wirklich wahre widerständige Identität für sich reklamieren darf – ob es eine weiße Cis-Lesbe oder ein trans-schwuler Latino war –, kann man heute nicht mehr feststellen. Die Suche nach einer Meistererzählung der Stonewall Riots sollte man ohnehin zugunsten historischer Forschung einerseits und politisch-aktivistischer Würdigung andererseits ad acta legen.

Stonewall bleibt ein unerschöpflicher Quell für Interpretationen der damaligen Ereignisse und für Untersuchungen dieser queeren Bewegungsgeschichte. Der Historiker Marc Stein hat gleich mehrere detailreiche Studien herausgegeben – neben einer umfangreichen Quellensammlung kürzlich erneut den Versuch einer Erzählung der Aufstände, ausgehend von Gesprächen mit Stonewall-heroes und deren Archivmaterial. Die New York Public Library veröffentliche kürzlich einen Sammelband von Zeitzeugenberichten, Streitschriften, Artikeln und Flugblättern. Bei der Lektüre, so Kevin Clarke in seiner Besprechung der Sammlung, »wird jedem auffallen, dass alle Stichpunkte, die heute so heiß umstritten sind (die verhaftete »Butch-Lesbe«, die Schwarzen, die Hispanics, die Drag Queens, die Transpersonen, die ­weißen Geschäftsleute usw.) alle vorkommen, alle Teil dieses revolutionären Großereignisses waren und alle wichtige Akteure.«

Wieso es gerade im Juni 1969 zur Gegenwehr vor dem Stonewall Inn kam, bleibt als Frage. Bedeutsam scheint das sich verändernde gesellschaftliche Klima in den USA gewesen zu sein. Nach einer Phase der Liberalisierung kam es insbesondere in New York zu einer Verschärfung der Sicherheitspolitik, die sich einerseits gegen Mafiakriminalität richtete und sich andererseits in ihrer Umsetzung unter anderem auf Orte und Versammlungen ethnischer und sexueller Minderheiten konzentrierte. Das von einem schwulen Mafioso (der mitunter auch als Stonewall-hero gilt) betriebene Stonewall Inn war in diesem Sinn ein Kristallisationspunkt, an dem kriminelles und queeres twilight aufeinandertrafen und das entsprechend zum Ziel von Razzien wurde. Die für den Abend bereitgestellte Polizeieinheit war ganz im Gegensatz zu den sonst eintreffenden Beamten nicht bestechlich und kontrollierte die Anwesenden tatsächlich, sowohl auf kriminelle als auch auf homosexuelle Aktivitäten. Die versammelten Queers vor dem Stonewall Inn verschwanden daraufhin jedoch nicht in die Anonymität der Nacht, wie dies sonst der Fall bei Razzien in schwulen Läden war, sondern blieben und wurden zahlreicher, bis ihre Anzahl schließlich die der Polizisten übertraf. Diese mussten sich, so eine Variante der Geschichte, im Stonewall Inn verstecken, worauf einige der Protestierenden den Laden in Brand steckten.

Die Errungenschaften der queeren Aktivisten der ersten Stunde, sind nicht zu gering einzuschätzen – und sie glänzen bis in die heutige Zeit.

Der kurzzeitige (zumindest befürchtete) Backlash einer liberaler gewordenen Öffentlichkeit mag dazu ermutigt haben, hinter das bereits Erreichte nicht mehr zurückfallen zu wollen. Schließlich war die Zeit Ende der sechziger Jahre in den USA auch geprägt von sozialen Bewegungen wie der schwarzen Befreiungsbewegung und der Frauenbewegung. Mit der Gegenwehr vor dem Stonewall Inn sollte auch die Schwulenbewegung beginnen, öffentlichkeitswirksam aufzutreten und mit zahlreichen Gruppen und Initiativen Einfluss auf die Situation der Homosexuellen und Queers zu nehmen.

So sehr sich die US-amerikanische und die westdeutsche Schwulen­bewegung in den siebziger Jahren inhaltlich unterschieden, so ähnlich war sich die Euphorie in ihren Anfängen. Sich öffentlich zum Schwulsein und Lesbischsein zu bekennen und dabei ein Kollektiv hinter sich zu wissen, war eine neue und lebensgeschichtlich bahnbrechende Erfahrung. In ihrer Individualität konnten die Bewegten sich und ihre Sexualität einer Neubewertung unterziehen, das, was am Anderssein zuvor zurückgehalten werden musste, mitunter überspitzt und lustvoll affirmieren.

Die Errungenschaften der Bewegungsgeneration, die in den Siebzigern und in den USA bereits 1969 Aktionsgruppen gründete, sich gegen Diskriminierung und für eine schwulere Welt einsetzte, sind nicht zu gering einzuschätzen – und sie glänzen bis in die heutige Zeit. Ganz deutlich wird dies nicht zuletzt an den Beteiligten selbst, die heute eine neue Form queeren Alterns repräsentieren, das zur damaligen Zeit nicht denkbar, weil höchst unrealistisch war. Schwul und lesbisch zu sein, ist heute nicht mehr derart mit der Angst vor Vereinsamung verknüpft. Das liegt an dem queeren Selbstbewusstsein der Alternden ebenso sehr wie an der heute selbstverständlichen queeren Öffentlichkeit, die aufgrund des Beharrens dieser Gene­ration auf Differenz – nicht im Sinne von Anerkennung, sondern mit der Betonung, dass es gilt, diese auszuhalten – entstand.

Zur Hervorhebung der Differenz gehörte die schwulen- und lesbenbewegte Solidarität, untereinander und gegenüber anderen, die Stigmatisierung erfahren. Besonders eindrücklich kann diese Haltung aus heutiger Sicht am Aids-Aktivismus der achtziger und neunziger Jahre verstanden werden. Viele Schwule verloren ihre Partner und Freunde aufgrund der Folgen von Aids. Hinzu kam die schärfer werdende Rhetorik gegen homosexuelle Männer bis hin zu dem politisch diskutierten Vorschlag, sie in Internierungslager zum Schutz der restlichen Gesellschaft abzuschotten. Die Krankheit verbreitete Angst und wurde mit der Sexualität insbesondere schwuler Männer assoziiert. Forderungen nach Abstinenz wurden laut. Beispielhaft organisierten schwule Aktivisten in Frankfurt am Main Demonstrationen mit dem Titel »Solidarität der Uneinsichtigen« mit einer deutlichen Positionierung auf Seiten der HIV-Positiven und in Solidarität mit den ebenfalls im Zuge von Aids skeptisch beäugten Strichern und Flüchtlingen.

Wer sich mit Schwulen dieser Generationen unterhalten hat, ist mit der Tragik und der in die Gegenwart reichenden Trauer in Berührung ­gekommen, die von der »Aids-Krise« ausging. Sowohl in Gruppen von ehemaligen Aids-Aktivisten als auch jenen, die die Schwulenbewegung der Siebziger gemeinsam erlebt haben, kann man eine enge Bindung wahrnehmen. Häufig kommen die Gespräche auf jene Zeiten zurück, man erinnert sich an ehemalige Aktivisten sowie an verstorbene Freunde und Partner; und die Schwere, die bei solchen Runden wahrzunehmen ist, offenbart zugleich eine Tiefe, der nicht einmal das Wort Solidarität gerecht wird.

Zusätzlich zu den erreichten bürgerrechtlichen Fortschritten müssen anlässlich von 50 Jahren Stonewall die Aktivisten und Aktivistinnen der ersten Stunde gefeiert werden – nicht nur jene, die am 27. Juni 1969 in New York dabei waren. Das gilt auch für die Kämpfe, die zu Zeiten von Aids geführt und ausgehalten wurden. Das gilt für die neuen Formen des Trauerns und des Zusammenhalts. Auch gilt das Feiern einer Form von früher Identitätspolitik, die sich das individuelle Glück und nicht die Kollektivierung zum Ziel setzt. Die Auflehnung schwuler und lesbischer Aktivistinnen und Aktivisten gehört ebenso zu dem, was den Glanz der Stonewall-Generation heutzutage ausmacht, wie die erkämpfte Möglichkeit, anzukommen: zum Beispiel in einer Familie, und das heißt nicht nur, eine ­eigene gründen zu können, sondern auch, einen guten Kontakt zur Herkunftsfamilie zu pflegen – und dabei äußerst homosexuell zu sein.

Zurück zu Stonewall: Geschichtliche Ereignisse kann man nicht besitzen. Ihre Inanspruchnahme wird die Hoffnung auf dadurch gelingende Anerkennung ohnehin nicht erfüllen. Stonewall kann jedoch als Anlass verstanden werden, die bewegten Queers, Schwulen, Lesben und Transleute erster und schwerer Stunden zu feiern. Stonewall gehört niemandem – und uns gehört die Zukunft.