Tunesien nach der Revolution

Ernüchterung nach der Euphorie

In Tunesien sind acht Jahre nach der Revolution viele Menschen enttäuscht. Insbesondere die desolate Wirtschaftslage macht ihnen zu schaffen. Widerstand gegen autoritäre Tendenzen gibt es weiterhin.
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Vom Umsturz vor über acht Jahren zeugen noch die »ACAB«-Parolen, die mit Jahreszahlen versehen überall in Tunesien an Hauswänden zu finden sind. Hier und da stehen verbeulte Einsatzwagen der Antiaufruhreinheiten der Polizei herum. 2011 stürzte die Protestbewegung in Tunesien das Regime von Zine al-Abidine Ben Ali, es fanden freie Wahlen statt, die Gesellschaft öffnete sich. Doch die Lage bleibt angespannt. Aus der Wirtschaftskrise, die sich nach der Revolution verschärfte, ist Tunesien seither nicht herausgekommen, das drückt auf die Gemüter. Der Tunesische Dinar hat im Vergleich zum Euro und US-Dollar stark an Wert eingebüßt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, insbesondere betroffen ist die junge Generation, der die Mehrheit der Bevölkerung angehört.

»Die Situation in der Peripherie ist katastrophal. Jeden Monat sterben Dutzende Frauen, die als Tage­löhnerinnen schwarz arbeiten, meist bei Kleinbusunfällen.«

In der Mittel- und Unterschicht sei »eine generelle Enttäuschung« weit verbreitet, sagt Ines Mahmoud. Die 1991 geborene Tunesierin sitzt zum Gespräch in einem Teehaus im Küstendorf Sidi Bou Saïd nahe Tunis. Sie ist für die Maghreb-Niederlassung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis und die Seenotrettungsinitiative Alarm Phone tätig. »Die Bevölkerung ist unzufrieden mit der Regierung. Sie will diese alten Männer nicht mehr, die die Forderungen der Revolution mit Füßen treten, Korruption verzeihen oder selbst begehen.« Der »Ruf nach einem Ende der Konterrevolution« werde immer lauter. Er richtet sich gegen die faktische Koalition der eher säkularen Partei ­Nidaa Tounes mit der islamistischen Partei al-Nahda.

Ernährt sich von Dattelkernen: eine Ziege in der Kooperative in El Guettar.

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Jan Marot

Die tunesischen Bürgerinnen und Bürger wünschten sich die Erfüllung der Forderungen der Revolution, »Freiheit, Würde und Arbeit«, sagt Mahmoud. »Tunesien mag eine politische Revolution durchgemacht haben, jedoch keine ökonomische.« Was zähle, seien die Freiheiten, die 2011 gewonnen wurden. »Ich könnte mich theoretisch morgen auf die Avenue Habib Bourguiba in Tunis stellen und Ministerpräsident Youssef Chahed lauthals beschimpfen. Es würde nichts passieren. Vor der Revolution wäre das undenkbar gewesen«, erzählt die junge Frau. Neue politische Gruppen, Bewegungen und Formen von Protest hätten sich seit 2011 entwickeln können, kritische Kunst und auch kritischer Journalismus seien nun möglich, zählt sie die positiven Entwicklungen auf. »Vor allem auch als Frau kann ich in Tunesien tun und lassen, was ich möchte. In anderen Ländern, wie etwa Ägypten, wäre das undenkbar.«

In den Städten, nicht nur in Tunis und der Umgebung, bestimmen junge, unverschleierte Frauen das Bild. Während in Marokko und Ägypten Teehäuser Männerdomänen sind, sitzen hier oft auch Gruppen von Frauen beim Tee. »Auch in der Politik sind Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten«, freut sich Mahmoud.

Umstrittener Freihandel
In den zahlreichen Protestbewegungen des Landes sind Frauen wie Ines Mah­moud ebenso oft federführend, etwa bei den Großkundgebungen gegen das Amnestiegesetz 2017, das trotz der Proteste verabschiedet wurde und unter Korruptionsverdacht stehende Angehörige des Regimes vor Strafverfolgung bewahren hilft, oder bei Protesten gegen die Austeritätspolitik und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch transnationale Konzerne.

Mahmoud zählt zu den Initiatorinnen der Initiative gegen das Freihandels­abkommen mit der EU. Der Accord de Libre Échange Complet et Approfondi (Aleca) wird seit Oktober 2015 verhandelt. Das Abkommen sieht die weitgehende Liberalisierung der tunesischen Wirtschaft vor, insbesondere der Landwirtschaft, der Fischerei und der Ausbeutung der Bodenschätze; auch das Bil­dungs- und Gesundheitssystem wären betroffen. Die Befürworter des Aleca sehen es als Ausweg aus der wirtschaft­lichen Misere Tunesiens.

Doch der Widerstand gegen das Abkommen wächst. Einige Ökonomen fürchten negative Auswirkungen auf die ohnehin schwache Wirtschaft des ­Landes. Das Observatoire Tunisien de l’Economie (OTE) hat mehrere kritische Studien zu den Auswirkungen des Abkommens publiziert, zum Beispiel auf den landwirtschaftlichen Sektor. Dort befürchtet es Preisverfall.

Anbau des tunesischen Exportschlagers: Dattelpalmen der Sorte »Deglet Nour« (Finger des Lichts) bei Douz.

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Jan Marot

»Der Aleca ist die Fortführung des Assoziationsabkommen von 1995, durch das der gesamte tunesische industri­elle Sektor liberalisiert wurde und Zölle abgeschafft wurden, was bereits zu weitreichenden negativen Konsequenzen für die tunesische Wirtschaft geführt hat«, sagt Mahmoud. Der Aleca sieht weitere Liberalisierungen und die Aufhebung von Zöllen im landwirtschaftlichen Sektor vor. Des Weiteren betrifft das Abkommen den Bereich des geistigen Eigentums und schließt Richtlinien zur Vergabe öffentlicher Aufträge bis hin zu Gesundheits- und Pflanzenschutz­normen ein.

»Die Konsequenzen des Aleca für den tunesischen Agrar- und Dienstleistungssektor wären besonders hart«, sagt Mahmoud. »Die Liberalisierung des Landwirtschaftssektors bedeutet vor allem einen Angriff auf unsere Ernährungssouveränität, sie wird einen vermehrten Import stark subventionierter europäischer Agrargüter nach sich ­ziehen.« Die tunesische Gewerkschaft für Landwirtschaft und Fischerei (UTAP) spricht von rund 250 000 vor allem kleinen Landwirten, die arbeitslos werden könnten. »Auch die Wasserknappheit ist ein großes Problem, das durch die vermehrte Land- und Wassernutzung verstärkt wird«, so Mahmoud. Die Landwirtschaft soll zwar langfristig nach EU-Gesundheitsstandards auf den weiteren Export ausgerichtet werden, doch wären bis zur vollständigen Implementierung tunesische Erzeugnisse für Verbraucher vom Heimatmarkt ausgeschlossen, warnt Mahmoud.

Die EU habe mit osteuropäischen Ländern wie der Ukraine, Georgien oder Moldawien passagenweise gleichlautende Verträge abgeschlossen, die jedoch langfristig eine wirtschaftliche Assoziation mit der EU oder auch die Mitgliedschaft zum Ziel hätten, so Mah­moud. Themen wie Personenfreizü­gigkeit, Visa und der grenzüberschreitende Personenverkehr haben im ­Aleca keinen Platz. »Im Text des tunesischen Abkommens steht teils anstelle von Tunesien ›Moldawien‹«, weist Mahmoud auf die Copy and paste-Methode der EU hin.

Nationale Blockade
Mit der Initiative #blockAleca organisiert Ines Mahmoud Informations­kampagnen, Diskussionen, aber auch Proteste, Sitzstreiks und gezielte Aktionen, insbesondere zum 1. Mai, um bei Pro-Aleca-Veranstaltungen, wie einem Treffen der Unterhändler mit Vertretern der Zivilgesellschaft, die Schattenseiten des Abkommens aufzuzeigen. »Wir haben ein Lied gegen den Aleca zur Melodie von ›Bella Ciao‹ gesungen. Unser Livestream zur Aktion hat mittlerweile über 70 000 Views auf Facebook«, sagt sie stolz. »Selbst der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands UGTT, Noureddine Taboubi, hat in seiner im Nationalfernsehen ausgestrahlten Rede zum 1. Mai ein Poster mit #blockAleca vor den Presse­mikrophonen platziert.«

Nahe Nefta an der Grenze zu Algerien. Das Gebiet ist für Schmuggel und die Kulissen von Tatooine aus »Star Wars« bekannt.

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Jan Marot

Aus der Zusammenarbeit mit über 50 Aktivistinnen und Aktivisten sei auch eine Broschüre entstanden, die in einfachem Arabisch und mit Karika­turen die wesentlichen Punkte des Abkommens erklärt. Über 12 000 Kopien seien landesweit verteilt worden, auch über die UGTT. In abgelegenen Regionen, in denen es noch Analphabetinnen und Analphabeten gibt, werde daraus auch öffentlich vorgelesen und darüber debattiert.
Mittlerweile opponiert nicht zuletzt dank #blockAleca der in Tunesien mächtige Gewerkschaftsbund UGTT gegen den Aleca. Der stellvertretende Generalsekretär der UGTT, Samir Cheffi, redet von einer »nationalen Front« ­gegen das Abkommen und appelliert an alle politischen Kräfte, sich an ihr zu beteiligen; der Aleca gefährde nicht nur die wirtschaftliche Zukunft Tune­siens, sondern auch die politische.

Das breite nationale Bündnis sieht Mahmoud durchaus positiv. Auch Teile der Partei al-Nahda seien im Lager der Aleca-Gegner angekommen. Da das Abkommen im Parlament abgewehrt werden muss, sei die Unterstützung ­al-Nahdas wichtig. »Je stärker die Anti-Aleca-Bewegung links orientiert ist, desto weniger Macht haben islamistische Kräfte, diese ›Leerstellen‹ zu besetzen«, betont sie allerdings. Von den Regierungsparteien verteidige nur noch Nidaa Tounes das Abkommen. Seit 2011 hätten die jeweiligen Regierungen die Schuldenpolitik Ben Alis weitergeführt, sagt Mah­moud, »und die staatliche Souveränität über natürliche Ressourcen wie Phosphat und Erdöl weiter abgebaut sowie öffentliche Sek­toren privatisiert.« Sie fügt hinzu: »Je mehr Staatsschulden Tunesien hat, desto mehr Kredite des IWF oder der EU müssen wir aufnehmen.« Das führe zu einem Teufelskreis des Zwangs der Erfüllung der Kreditkonditionen, wie etwa die Implementierung von Austeritätsmaßnahmen oder die Liberalisierung der Märkte. Mahmoud ist allerdings optimistisch, dass das Freihandelsabkommen scheitern wird.

Vergessene Peripherie
Fährt man von Sidi Bou Saïd oder Tunis nach El Guettar im Zentrum Tunesiens, gleicht dies einer Zeitreise um Jahrzehnte in die Vergangenheit. Die Regionen im zentral- und südtunesischen Hinterland sind verarmt und abgehängt. Doch auch hier regte sich ­Widerstand. Die Kleinstadt El Guettar nahe der Stadt Gafsa, einem Zentrum des Phosphatbergbaus, war neben Kasserine eines der frühen Zentren der ­Revolution von 2011. In Gafsa haben die Arbeiter immer wieder für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen gestreikt. Die Einnahmen aus dem Phosphatexport fließen in die reicheren Landesteile, an die Küsten und in die großen Städte, im Hinterland mangelt es an grundlegender Versorgung, die Infrastruktur verfällt.

»Hier fährt der verdammte Phosphatzug«, empört sich Firas Hamada beim Überqueren der Gleise in El Guettar. Der kommunistische Gewerkschafter, ein studierter Informatiker und Politologe, war von Anfang an bei der Gewerkschaft für arbeitslose Universitätsabsolventen UDC (Unión des Chômeurs ­Diplômés) federführend tätig. Schon 2006 habe man im Geheimen mit der Organisation des Widerstands gegen die Diktatur Ben Alis begonnen, stets in Gefahr, in die Hände der Polizei zu fallen, erzählt er. Mit dem Beginn der Revolution sei er mit der Koordination der Unterstützer des Umsturzes betraut worden, dreimal sei er in dieser Zeit in Haft gewesen. In El Guettar sei die Polizeistation vier Mal niedergebrannt worden, erinnert er sich. »Mittlerweile haben wir keine Polizeiwache mehr im Dorf. Die brauchen wir auch nicht. Kriminalität existiert hier nicht«, behauptet er.

Dafür gibt es andere Probleme. »Die Situation in der Peripherie ist katast­rophal«, sagt er. »Jeden Monat sterben Dutzende Frauen, die als Tagelöhne­rinnen schwarz arbeiten, für maximal zehn bis 15 Dinar (umgerechnet drei bis vier Euro, Anm. d. Red.) pro Tag. Meist verunglücken sie bei Kleinbusunfällen«, berichtet er aus dem Alltag in der Region. Diese Tagelöhnerinnen hätten »natürlich auch keine Kranken- oder Sozialversicherung«.

Die Regierungspolitik sieht auch ­Hamada sehr kritisch: »Unter al-Nahda und Nidaa Tounes gibt es nur Stagna­tion und in allen Bereichen der Gesellschaft Rückschritte, insbesondere im Sozialen und Wirtschaftlichen.« Im Herbst stehen in Tunesien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Insgesamt mehr als 150 Parteien konkurrieren um die Wählergunst, ein bis maximal zwei Dutzend können sich ernsthafte Chancen auf Mandate ausrechnen. Hamada befürchtet, dass die Islamisten stärker werden könnten, denn »sie sind die einzigen, die nach wie vor ihr Team und ihre Struktur weiterführen«. Aber auch die ehemaligen Ben-Ali-Anhänger dürften an Macht gewinnen, glaubt er. Die Linke dagegen sei »zu zerstritten und ge­spalten und in Personalprobleme verwickelt, als dass ihre Mobilisierungskraft ausreichen könnte«.

In der Oase von El Guettar helfen manche sich ob der schwierigen ökonomischen Lage lieber selbst. Hamadas Freund Aimet Touta rief eine Kooperative ins Leben, um Schafe und Ziege zu züchten. »Das Einzige, das hier zumindest geringe Einnahmen verspricht«, meint Touta. »Nachhaltigkeit ist oberste Prämisse, das Futter liefern neben gekeimten Weizensprossen in erster Linie Dattelkerne, der Abfall von Tunesiens landwirtschaftlichem Exportprodukt Nummer eins, den Deglet Nour«. Touta ist aber nicht nur Landwirt. Als Multitalent ist er der Informatiker und Hardware-Profi im Dorf, repariert Smartphones und Laptops, macht Musik und arbeitet beim Lokalradio. Während der Revolution war er daher mit der Informationstechnologie und dem Schutz der Kommunikationswege für die Aktivisten in der Region betraut und fungierte als Video­blogger.

Benzin- und Zigarettenschmuggel
Selbsthilfe anderer Art betreibt Achmad, kurz »Fathi« genannt. Seinen Nach­namen will er nicht preisgeben. »Was ich mache, ist nicht gut für Tunesien«, sagt er. Mit seinem PS-starken Toyota-Pickup und seiner Familie schmuggelt er seit vielen Jahren Sprit und Zigaretten aus Libyen und Algerien. »Die Polizei kommt mir in der Sandwüste unmöglich hinterher«, prahlt er. Hier im Süden, um die Oasen Douz, Touzeur und Nefta, wirken vor der Revolution errichtete Hotelressorts wie Geisterstädte. Nur wenige Touristen wagen sich in die letzten Orte vor den Sanddünen des Östlichen Großen Erg der Sahara. Hin und wieder trifft man auf Reisebusse, in erster Linie mit Gästen aus Süd­korea oder mit russischen Pauschal­urlaubern auf Tagestour. Lukrativster Wirtschaftszweig ist hier der Schmuggel von Treibstoff, der an improvisierten Tankstellen aus Kanistern deutlich ­unter dem in Tunesien gängigen Preis feilgeboten wird. 20 Liter aus Algerien kosten 30 bis 35 Dinar, aus Libyen 40, an der Zapfsäule über 55. Der Zigarettenschmuggel verspricht ebenfalls große Gewinnmargen.

»Tunesien mag eine politische Revolution durchgemacht haben, jedoch keine ökonomische.«

Dass dies zu Lasten der Staatseinnahmen Tunesiens geht, weiß auch Achmad. Die Region bietet Einkommensmöglichkeiten vor allem im Energiesektor. »Ständig werden hier neue Förderanlagen errichtet«, sagt er. Tank­laster rollen unentwegt zu den Häfen von Zarzis und Gabès, algerische und italienische Baufirmen, deren Maschinerie einem oft auf Überlandfahrten auf Sattelschleppern begegnet, haben Hochbetrieb.
In manchen Bereichen scheint sich nach der Revolution also kaum etwas gebessert zu haben. Einige Tunesierinnen und Tunesiern verlangen gar wieder nach einem »starken Mann«. Ohne ­Sicherheit kämen keine Urlauber, das schade dem ­Geschäft; Demokratie und die arabische Welt passten nicht zusammen, heißt es etwa unter Remigranten, die jahrzehntelang in Frankreich, Österreich oder Deutschland gearbeitet ­haben und nun in Tunesien Hotels und Ferienwohnungen betreiben.

Aktivistinnen wie Ines Mahmoud bleiben jedoch zuversichtlich. Zwar seien in Tunesien, wie auch in Algerien, noch »alte Männer« am Ruder, doch anders als beim großen Nachbarn, der eben seine eigene Revolution versuche, oder in Ägypten sei in Tunesien zumindest das Militär kein Risikofaktor, meint Mahmoud. »Es stand historisch immer auf der Seite des Volkes. Ein Militärputsch ist in Tunesien unmöglich. Die Regierung kann das Militär nicht gegen Aufstände einsetzen, ebenso wenig zur Zerschlagung von Streiks oder größeren Protestbewegungen.«