Als das Streiken noch geholfen hat

Im Dokumentarfilm »Luft zum Atmen« sprechen Arbeiter über 40 Jahre radikale Opposition im Opelwerk Bochum.

»Für die Studierenden waren Fabriken doch wie ein schwarzes Loch«, erzählt Rainer Jansen. »Wir haben denen gezeigt, dass da Menschen arbeiten.« Jansen wird in seinem Wohnzimmer interviewt. Wenn der 72jährige auf den Aufbruch Anfang der siebziger Jahre zu sprechen kommt, hält es ihn kaum mehr auf der Couch. Neben Jansen sind im Verlauf des Dokumentarfilms »Luft zum Atmen« noch eine gute Handvoll weitere Aktivisten – alles Männer – zu sehen, die vom Betriebskampf bei Opel in Bochum berichten. Sie erzählen, wie sie die »Gruppe oppositioneller Gewerkschafter«, Gog, gründeten, die von 1972 bis zur Betriebsschließung Ende 2014 bei Opel aktiv war. Die ruhigen Interviewsequenzen wechseln sich ab mit teils körnigen, alten und neueren Farbaufnahmen aus Fernsehreportagen des WDR über Streiks, Betriebsversammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen. Außerdem werden Auszüge aus Interviews gezeigt, die linke Medienzentren mit Protagonisten der Gog geführt haben.

»Mir ist keine vergleichbare Gruppe aus klassenkämpferischen und kommunistischen Kollegen in der jüngeren Geschichte Deutschlands bekannt – Kolleginnen waren leider fast nie dabei –, die über so lange Jahre kontinuierlich in einem Betrieb ›gegen den Strom‹ geschwommen ist«, so Robert Schlosser, der bei der Gründung der Gruppe 1972 schon nicht mehr bei Opel arbeitete, aber die Gog als Kader der Kommunistischen Gruppe Bochum/Essen viele Jahre unterstützte. Allein diese Beharrlichtkeit »verdient großen Respekt für jeden Einzelnen, der dabei war«. Zumal die Mitglieder der Gog, insbesondere die Kandidaten zu den Betriebsratswahlen, von der IG Metall aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurden. Es war die Zeit des Unvereinbarkeitsbeschlusses, mit dem die IG Metall, wie alle DGB-Gewerkschaften ab 1973, radikale Linke, insbesondere aus kommunistischen Gruppen, zu iso­lieren versuchte. Die Sozialpartnerschaft sollte nicht von den »Chaoten«, wie die Gruppe abwertend genannt wurde, gestört werden.

Werksbesetzung 2004.

Bild:
Labournet TV

1980 war Opel Bochum mit 22 000 Mitarbeitern das größte Produktionswerk des Autokonzerns General Motors in Europa – und das rebellischste in der Bundesrepublik. 1965 in Betrieb genommen, bestand die Belegschaft aus vielen ehemaligen Bergleuten, die die Zechenstilllegungen miterlebt hatten, und vielen Jung­arbeitern, die lange Haare trugen, den »Beat-Club« kannten und mit der linken Jugend- und Studentenbewegung in Berührung gekommen ­waren.

Bandarbeit im Akkord, Schweißen, Schleifen, Montieren, Lackieren – es gibt wenige Bilder von der körperlich und nervlich anstrengenden Arbeit an den Fließbändern. Die Filmmacherin Johanna Schellhagen hat dennoch welche gefunden. »Arbeitshetze, Arbeitshetze, Arbeitshetze«, fasst Roland Müller-Heidenreich die Arbeitsbedingungen am Band zusammen, gegen die er mit der Gog aufbegehrte. Auf den Bildern aus den Werkshallen lässt sich die Unwirtlichkeit des Ortes erahnen: Wände aus Metall, Maschinen, Geräte, Bänder, Bleche, Plastikteile, Motorenblöcke, Autotüren, Karosserien. Dazu kam der infernalische Lärm. Wer die ­Arbeit im Großbetrieb kennt, kann sich die Luft in den Fabriken vorstellen: Metallabrieb, Staub, Öldämpfe und der Geruch von Schweiß. Auf einmal gibt es nicht mehr nur hauptamtliche Betriebsräte, »die sich in ihrem Büro verschanzen, eine ruhige Kugel schieben und zu allem aus der Chefetage ja und amen sagen, sondern Betriebsräte, die in die Hallen gehen, an die Bänder, an die Basis«, so Wolfgang Schaumberg, der 1970 bei Opel als Lagerarbeiter anfing und 1972 die Gog mitbegründete.

Später schließt sich der Bandarbeiter Uwe Lübke der Gog an: »Ich hatte zu denen gleich Vertrauen. Wenn es Probleme gab, sind die nicht so ›bitte, bitte‹ zum Meister, sondern in die Konfrontation gegangen.« Solche kurzen Statements sind durch eine souveräne Montage des Films zu ­einem dichten Bild verwoben, das zeigt, wie die Männer ihre Lohn­arbeit bei Opel und ihr Aufbegehren gegen diese Bedingungen wahrgenommen haben. Aus den Objekten der Ausbeutung in der Fabrik werden wieder Subjekte, die auch in der Fabrik ihre Ansprüche und Bedürfnisse formulieren. Dazu passt, dass sich die Gog, die als Rentnergruppe weiterhin besteht, diesen Film gewünscht hat. Die Regisseurin zögerte erst, weil es »ein reiner Männerfilm werden würde«. Denn in der Gog waren nur Männer aktiv: »Aber es ­waren Männer, die ihre eigene Unterdrückung und Vernutzung als Fabrikarbeiter frontal angegangen sind«, sagt die Regisseurin. »Ich habe dann auch gar nicht versucht, eine Frau in den Film hineinzuquetschen, um zu bemänteln, dass in der Gruppe eben keine Frauen waren.« Die Frage, wieso in einer linken Betriebsgruppe über 40 Jahre fast nur Männer waren, wäre einen eigenen Film wert, meint Schellhagen.

In »Luft zum Atmen« geht es darum, sich als Mensch gegen die eigene Vernutzung zu wehren – nicht darum, Männlichkeit zu konstruieren. Dies wird in einer Sequenz deutlich, in der es um Arbeitszeitverkürzung geht. »Wir haben als Gog immer schon auf unseren Flugblättern die Schichtzeitverkürzung gefordert«, erzählt Uwe Lübke, »von acht auf siebeneinhalb Stunden.« Durchsetzen ließ sich die Forderung erst, als auch die offizielle Gewerkschaft, die IG Metall, darauf drang und nach jahrelangem Druck von der Basis 1984 endlich für die 35-Stunden-Woche streikte. Diese wurde in den ­Fabriken der Autoindustrie schrittweise bis 1995 eingeführt. Bei Opel Bochum konnte sich nach harten Konflikten mit der sozialdemokratischen Betriebsratsmehrheit und dem örtlichen Bevollmächtigten der IG Metall die Gog mit ihrer weiterreichenden Forderung durchsetzen. Die IG Metall wollte als Ausgleich ein paar Freischichten mehr, die Gog die Verkürzung der täglichen Schichten: »Statt von viertel vor sieben bis halb drei wollten wir von sieben bis zwei Uhr.« So wurde es vereinbart, auch für die Spätschicht. »Das hat unser Leben wirklich verbessert, diese Dreiviertelstunde weniger täglich«, erinnert sich Lübke und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Aber, so schiebt er nach, das »war auch das letzte Mal, dass wir eine Verbesserung erreichen konnten«.

Wolfgang Schaumberg sagt: »Ab den neunziger Jahren haben wir nur noch Abwehrkämpfe geführt.« ­Während er 1970 noch glaubte, in absehbarer Zeit die Weltrevolution mit­erleben zu können, ging es jetzt darum, Verschlechterungen zu verhindern. »1990 fing das an mit den Stelltafeln in den Hallen für die Standortkonkurrenz.« Auf diesem wurde dokumentiert, wie viel Lohn ein Opelarbeiter an den einzelnen Standorten in Europa bezieht. Opel war in eine Absatzkrise geraten, Kostensenkung wurde zum Dogma. Der Chef des Werkes Bochum erpresste die Belegschaft: Entweder ihr ­akzeptiert die Nachtschichtt oder wir verlagern die Arbeit ins Werk Antwerpen. Der Betriebsrat hat mehrheitlich, wie die IG Metall, die Argumentation der Kapitalseite übernommen: Wenn es der deutschen Wirtschaft gutgeht, geht es auch dem Arbeiter hierzulande gut. »Das steht aber ­einer Interessenvertretung der Arbeiter diametral entgegen«, erregt sich Uwe Lübke von der Gog. Mit solch einem Standortnationalismus sei »keine gewerkschaftliche Vertretung im Interesse der Arbeiter mehr möglich«, das sei die Selbstaufgabe. Bei Opel Bochum lässt sich das rückblickend über die Jahrzehnte beobachten. Während die Belegschaft bis zur Werksschließung Ende 2014 verkleinert und der Arbeitsdruck größer wurde, stimmte die Belegschaft stufenweise dem Verzicht auf Lohn und Zusatzleistungen zu. Der Unterschied zu anderen Betrieben: Bei Opel in Bochum gab es eine Opposition, die darauf bestand, dass Verzicht im Interesse von Kapital, Standortkonkurrenz und Nationalismus nichts einbringt. Dies dokumentiert der Film in beeindruckender Weise.

Luft zum Atmen – 40 Jahre Opposition bei Opel in Bochum. Dokumentarfilm von ­Johanna Schellhagen. Filmstart: 2. Mai