Der sozialistische Politiker Noureddine Ait Yahiatene im Gespräch über die Frage, wie Algerien reformiert werden soll

»Das Ende von Bouteflika«

Auf der Demonstration der Architekten in Algier sprach die »Jungle World« mit Noureddine Ait Yahiatene, Vorstandsmitglied der Front Sozialistischer Kräfte (FFS) sowie Mitglied der Nationalen ­Architektengewerkschaft SYNAA.
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Wie ist die Stimmung auf der Demonstration?
Die Stimmung ist sehr gut. Hier sind ungefähr 4 000 Menschen, die demonstrieren. Architekten, Anwälte, Richter, Frauen, Studierende und Mitglieder von Oppositionsparteien und viele mehr. Sie rufen: »Nieder mit dem System, sagt das ganze Land«, »Freiheit und Demokratie« sowie »Friedlich, friedlich« und »Das Volk und die Armee sind eins«. Es ist so laut, dass ich mich jetzt in mein Auto gesetzt habe, damit Sie mich überhaupt hören können.

Was verstehen Sie unter dem System?
Das System hat drei Ebenen: die der Armee unter Ahmed Gaïd Salah und des Geheimdiensts DRS – sie kooperieren –, die zweite Ebene der Oligarchen, wozu auch Besitzer von Fern­sehsendern und Personen, die hohe Posten in der Wirtschaft innehaben, ­gehören, sowie die dritte Ebene des Volkes.

Es ist die Rede von einem Kampf zwischen Generalstabschef Gaïd ­Salah und dem ehemaligen Leiter des algerischen Geheimdienstes DRS, Mohammed Mediène, bekannt als »General Toufik«. Wie verhält sich Ihre Partei angesichts solcher Kämpfe innerhalb der herrschenden Clans?
Der einzige Clan meiner Partei ist das Volk, die anderen sind unsere Gegner, siw haben unser Land als Geisel genommen. Dem algerischen Fernsehsender Echourouk zufolge wird sich die Armee darum kümmern, den DRS-Clan zu entmachten, und die Finanzlobby korrupter Milliardäre wird strafrechtlich verfolgt. Unsere Armee ist wachsam und auf der Seite des Volkes.

Wie verhalten sich Polizei und ­Armee auf der heutigen Demonstration?
Hier sind sogar Armeeangehörige, die sich den Protesten angeschlossen ­haben. Es ist sehr friedlich. Die Polizei macht ihre Arbeit und ist solidarisch mit uns.

Nehmen auch Mitglieder der ehemaligen Staatspartei FLN (Nationale Befreiungsfront) an der Demonstration teil? Diese haben ihre Machtposition innerhalb der algerischen ­Regierung stets mit dem Argument gerechtfertigt, dass ihre Mitglieder für die Befreiung vom französischen Kolonialregime stehen und die ­Unabhängigkeit für Algerien erkämpft haben.
Ja, es sind einzelne dabei, aber sie werden von den Demonstrierenden aus­gebuht.

Was sagen Sie zu der Erklärung von Armeechef Gaïd Salah, der vom Verfassungsrat gefordert hat, über Artikel 102 der Verfassung Präsident Abdelaziz Bouteflika seines Amtes zu entheben?
Das lehnen wir ab. Das hätten sie auch schon 2013 machen können, als der Präsident krank wurde. Und außerdem ist das ein Versuch dieser mafiösen ­Regierung, bis zu den Wahlen in fünf Monaten an der Macht zu bleiben und diese dann auch noch zu organisieren. Das algerische Volk fordert die Anwendung von Artikel sieben der Verfassung, dem zufolge die konstituierende Macht vom Volk ausgeht. Somit müssen die maßgeblichen Entscheidungen bei der Organisation der verfassunggebenden Versammlung, den Wahlen und ­einer Zweiten Republik vom Volk ausgehen. Aber wir brauchen die Armee als Garant des Übergangsprozesses hin zu einer Demokratie.

Einerseits lehnen Sie die Initiative von Gaïd Salah ab, Bouteflika seines Amtes zu entheben, und andererseits sagen Sie, wir brauchen die Armee als Garant für den Übergangsprozess. Ist das nicht widersprüchlich?
Wir sind gegen Gaïd Salah in seiner Funktion als Vizepräsident einer Regierung, die dabei ist, sich aufzulösen, und gegen das korrupte System, haben uns aber mit denen in der Armee verbündet, die ebenfalls dagegen sind. Und die werden uns beim Übergangsprozess hin zu einer Zweiten Republik unterstützen.

Wie verhält sich der Verfassungsrat?
Er wartet ab, wie das Volk sich verhält und welche Forderungen gestellt ­werden.

Vergangene Woche hat es einen dreitägigen Generalstreik gegeben. Wer hat sich daran beteiligt?
Anlass dazu war der Tag der Arbeit, der 25. März. Am Generalstreik haben sich alle Verwaltungsbezirke landesweit beteiligt. Sogar Arbeiter des staatlichen Ölkonzerns Sonatrach haben ihre Arbeit niedergelegt. Nicht nur alle Behörden und Geschäfte waren geschlossen, sondern auch die Flughäfen und Häfen.

Sind die Regierenden dadurch unter Druck gesetzt worden?
Ich war eigentlich gegen den Streik, denn ich halte es für notwendig, dass die öffentliche Verwaltung weiterhin funktioniert. Aber er war insofern erfolgreich, als damit tatsächlich Druck ausgeübt wurde.

Wie soll es nun weitergehen?
Gemäß Artikel sieben unserer Ver­fassung ist das algerische Volk die konstituierende Macht und insofern ist es an ihm, den Übergangsprozess zu organisieren und zu gestalten. Am Sonntag (31. März, Anm. d. Red.) werden sich Vereine, darunter auch Frauenvereine, Oppositionsparteien, Studierendenvertreter und die Gewerkschaften treffen, um eine Plattform für ­einen Ausweg aus der Krise zu gründen und den Übergangsprozesses zu organisieren. Vertreter dieser Plattform sollen an der Organisation der Wahlen zur einer verfassunggebenden Versammlung und einer Übergangsregierung mitwirken.

Orientiert sich die Zivilgesellschaft, die sich jetzt in Algerien organisiert, am Beispiel des demokratischen Übergangsprozesses im Nachbarland Tunesien?
Die Revolution des algerischen Volkes vom 22. März ist aus meiner Sicht nicht mit der Revolution in Tunesien 2011 vergleichbar. Aber die Schaffung einer verfassunggebenden Versammlung in Tunesien ist ein Prozess, der in Algerien in ähnlicher Weise 1963 stattgefunden hat – neun Jahre nach der Unabhängigkeit.

Der algerische Autor Kamel Daoud hat auf seiner Facebook-Seite ­geschrieben: »Das ist das Ende des Bouteflika-Clans, nicht aber das Ende des Regimes.« Wie sehen Sie das?
Es ist das Ende von Bouteflika und seinen Mittelsmännern. Aber natürlich wird das Regime nicht morgen von der Bildfläche verschwinden, es wird ­mindestens bis zur verfassunggebenden Versammlung fortbestehen. Diese wird aber einen radikalen Systemwechsel und die Zweite Republik einleiten. Es ist an der Zeit, dass die jungen Generationen nun die alte Garde ablösen.