Die Identitätspoilitik und ihre Kritiker

Sag bloß nicht Identität

Eine Kritik der liberalkonservativen Kritik an der Identitätspolitik.

Die Bundeszentrale für politische Bildung befasst sich in ihrer Publikation Aus Politik und Zeitgeschichte (Februar 2019) mit einem der derzeitigen beliebtesten Themen im deutschen Feuilleton, der Identitätspolitik. Unter dem Titel »Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik« hat Simon Strauß, Feuilletonredakteur der FAZ, einen Essay verfasst, der beispielhaft für die ­liberalkonservative Analyse ist, die sich seit einigen Jahren etabliert hat.

Strauß’ Hauptargument lässt sich so zusammenfassen: Die Identitätspolitik spalte die Gesellschaft, und das sei schlecht, »denn nur eine versöhnte oder zumindest versöhnliche Gemeinschaft kann auf Dauer stark bleiben«. Es sei »heute dringend nötig, an einer neuen Form von Bekenntniskultur zu arbeiten, die sich der politischen Auseinandersetzung über das gemeinsame Gut stellt«.

Den Weg dahin sieht der Autor in einer modernen Form des »antiken Bürgerbegriffs«, denn dieser biete einen »Begriff von Gemeinwohl, der jenseits von Konsum und Moral auch für bürgerliche Verantwortung und politische Integration steht«.

Wem diese Sätze ziemlich inhaltsleer vorkommen, der könnte versuchen, sie etwa so zu übersetzen: »Wir sollen uns nicht mehr als diskriminierte Minderheiten oder als ausgebeutete Arbeiter verstehen, sondern als gleiche Bürger, die alle gemeinsam über das ›Gemeinwohl‹ beratschlagen.« So weit, so bekannt.

An Autoren wie Simon Strauß und Mark Lilla deprimiert nicht ihre belanglose Kritik der Identitätspolitik, sondern die völlig unambitionierte, liberale Denkweise, die hinter ihren Texten steckt. Man erkennt leicht das Wunschdenken arrivierter Intellektueller, die mit der Welt, wie sie ist, völlig konform sind, und sich alle politischen Konflikte einfach wegwünschen.Politik muss, wenn sie irgendwas bedeutet, nicht »das Gemeinsame suchen«, wie Strauß schreibt, sondern die Antagonismen in unserer Gesellschaft offenlegen und ausfechten.

Einer der prominentesten Vertreter dieses Standpunktes ist der US-amerikanische Politologe Mark Lilla (»The Once and Future Liberal: After Identity Politics«, 2017), den Strauß in seinem Essay mehrmals zustimmend zitiert. Diese Kritik besteht vor allem aus drei Argumenten.

Das erste besagt, der rechtspopulistische Backlash sei eine Art Notwehr gegen die Arroganz des liberalen Kosmopolitismus. »Grundsätzlich steht das Lebensgefühl eines liberalen Kosmopolitismus einer von Entwertungs­erfahrungen gekennzeichneten Lebenslage moralisch oder materiell Deklassierter gegenüber«, schreibt Strauß.

Das hört sich zunächst richtig an. In einigen Bereichen der Gesellschaft – Strauß nennt als Beispiel die Berliner Theaterszene – kann man durchaus den Eindruck gewinnen, der liberale Kosmopolitismus gäbe den Ton an. Aber bei Großanalysen, wie sie Strauß und Lilla versuchen, geht es um die ­Gesamtgesellschaft. Wer aber die Debatte in der deutschen Politik und den Medien verfolgt – und dabei tatsächlich auf die für den Mainstream repräsen­tativen Stimmen schaut –, kann nicht wirklich von einer diskursiven Dominanz des liberalen Kosmopolitismus reden (es sei denn, er ist ein Rechter – oder einfach ein provinzieller Intellektueller, der nicht über den Tellerrand des hauptstädtischen Kulturbetriebs hinausschauen kann.)

Was Autoren wie Strauß und Lilla nicht eingestehen, ist, dass die kapitalistische Gesellschaft rechte Ressentiments praktisch von selbst her­vorbringt. Man muss keine kulturellen »Kränkungserfahrungen« imaginieren, um sie zu erklären. Die Verachtung für leistungsschwache Außenseiter; die Phantasie einer behaglichen kulturellen Heimat, welche Zugehörigkeit und Sicherheit bietet gegen die Angst, der wir alle im Kapitalismus ausgesetzt sind – all das ist Bestandteil des kapitalistischen Alltagsbewusstseins.

Das gilt auch für die zentrale Kategorie des Rechtspopulismus, die Na­tion, die sich als Wettbewerbskollektiv durchsetzen muss und sich dabei ­keine Schwächen erlauben darf. Der Schritt zum »autoritären National­radikalismus« ist in Krisenzeiten dann nicht mehr weit..

Das zweite Argument besagt, dass der Identitätsfimmel der Linksliberalen die soziale Frage verdrängt und auf diese Weise zum Neoliberalismus beigetragen habe. Auch das entspricht nicht den historischen Tatsachen. Als Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton die neoliberale Wende er Sozialdemokratie einleiteten und ihre Parteien damit einen Großteil der Arbeiterklasse langfristig verloren haben, hörte man wenig von Identitätspolitik. Die politischen Akteure der »Neuen Mitte« verstanden sich zwar auch als fortschrittliche Vertreter eines liberal-kosmopolitischen Zeitgeistes, gleichzeitig versuchten sie, sich auch gesellschaftspolitisch von linken Altlasten zu befreien. Die politische Rhetorik dreh­te sich keineswegs um Minderheitenrechte, sondern vor allem um Wett­bewerbsfähigkeit. Dass die soziale Frage in der heutigen Politik kaum eine Rolle mehr spielt, ist richtig, aber das hat wenig mit Identitätspolitik zu tun.

Drittens wird behauptet, dass »rechte Identitätspolitik« bloß eine Reaktion auf die identitätspolitische Fragmentierung sei, welche »von links« herbeigeführt worden sei. So argumentiert etwa Francis Fukuyama, dessen neues Buch »Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet« im ­Februar auf Deutsch erschien. Fukuyama nimmt jedoch, anders als Lilla, die sozialen Verwerfungen des Neoliberalismus ernst und zeigt mehr Verständnis für die Identitätspolitik der Minderheiten, nicht nur für deren Anliegen. Er betont, dass das Ressentiment der Rechtspopulisten im Kern irrational sei.

Aber auch bei ihm spielt die Dialektik zwischen linker und rechter Identitätspolitik eine Rolle. Als Lösung schlägt Fukuyama einen »soften Patriotismus« vor, der eine verbindende Identität schaffen müsse, damit sich die große Teile der Gesellschaft nicht mehr »kulturell abgehängt« fühlen.

 

Das Problem mit diesem Argument ist, dass es diesen »soften Patriotismus« längst gibt. Er schallt uns von überall entgegen und bestimmt auch die Rhetorik der linken Mitte. Kaum ein Po­litiker hat den nationalen Zusammenhalt beschworen wie Barack Obama; auch in Deutschland ist immer wieder von Zusammenhalt und Leitkultur die Rede – der rechte Backlash kam trotzdem.

Identitätspolitik entsteht nicht aus einer Laune heraus, sondern ursprünglich als Reaktion auf Diskriminierung – auf die Identitätspolitik der Mehrheitsgesellschaft, um genau zu sein. Deutsche, deren Großeltern als Gastarbeiter in dieses Land kamen, können inzwischen auf Jahrzehnte der rassistischen Ablehnung zurückblicken, die ihre ­Familien in Deutschland erfahren haben. Die Identität als »Ausländer« ­haben sie sich nicht ausgesucht, sie wurde ihnen aufgedrückt und sie ist eine Last, kein bequemer »Schild, hinter dem man sich verschanzen und angegriffen fühlen kann«, wie Strauß schreibt.

Es geht nicht darum, sich prinzipiell für oder gegen die Identitätspolitik zu positionieren. Es gibt durchaus gute und auch gute linke Gründe, manche Formen der Identitätspolitik zu kritisieren. So ­besteht vor allem im postkolonial inspirierten ­Diskurs das Risiko eines »Essentialismus durch die Hintertür«, der dann doch wieder nur von klar abgegrenzten, homogenen Kulturkreisen und »Communities« spricht. Auch gibt es eine Spielart der eher moderat-liberalen Identitätspolitik, die zwar viel Energie darauf verwendet, subtilen Rassismus in zwischenmenschlichen Interaktionen und Fernsehserien aufspüren, aber kaum Interesse daran zeigt, strukturelle Ungleichheiten zu bekämpfen.

Während der Amstzeit Obamas konnte der liberale Antirassismus in den USA eine beachtliche kulturelle Hegemonie erlangen, ohne dass sich die ökonomische Situation der Afroamerikaner auch nur ein klein bisschen verbessert hätte. Da muss man sich die Frage stellen, ob die identitätspolitische Gerechtigkeit in ihrer weichgespülten Form nicht ein bloßes Surrogat ist, das dazu dient, sich um soziale Probleme nicht kümmern zu müssen. Denn dies erfordert viel radikalere Antworten, als sie der »progressive Neoliberalismus« bieten kann. Auch in Deutschland ist die Marginalisierung von Migranten und ihren Nachkommen zu einem nicht geringen Teil eine ökonomische; wer sie wirksam bekämpfen will, darf von Mindestlohn, Arbeitsrechten und sozialer Spaltung im Bildungswesen nicht schweigen.

Man findet bei Linksliberalen zudem gelegentlich überbordenden Mora­lismus. Der linke Kritiker Mark Fisher prägte den Begriff des »Vampire Castle« für die linksliberale Obsession, auf die kleinsten moralischen Grenzüberschreitungen zu lauern und sie dann mit großer Lust zu bestrafen. Das ist nicht nur unangenehm, weil Moralismus eben unangenehm ist, es ist auch politisch kontraproduktiv: »Theoretisch beansprucht man für sich, struktu­relle Kritik zu betreiben«, schrieb Fisher über dieses Phänomen. »Praktisch ­befasst man sich aber nie mit etwas anderem als individuellem Verhalten.«

Selbstverständlich ist eine diskriminierungsfreie Gesellschaft noch keine befreite Gesellschaft – wenn auch letztere unbedingt ersteres zu sein hat. Mit wie viel Energie heutzutage gegen Rassismus demonstriert wird – etwa bei der großen #Unteilbar-Demonstration in Berlin –, während die Abschaffung von sozialen und ökonomischen Hierarchien weiterhin ein Minder­heitenanliegen bleibt, zeigt unter anderem, wie sehr der »kapitalistische Realismus« immer noch die Gegenwart bestimmt. Das alles ist jedoch kein ­Argument gegen Identitätspolitik, sondern für den Sozialismus.

An Autoren wie Simon Strauß und Mark Lilla deprimiert nicht ihre belanglose Kritik der Identitätspolitik, sondern die völlig unambitionierte, liberale Denkweise, die hinter ihren Texten steckt. Man erkennt leicht das Wunschdenken arrivierter Intellektueller, die mit der Welt, wie sie ist, völlig konform sind, und sich alle politischen Konflikte einfach wegwünschen.

Politik muss, wenn sie irgendwas bedeutet, nicht »das Gemeinsame suchen«, wie Strauß schreibt, sondern die Antagonismen in unserer Gesellschaft offenlegen und ausfechten. ­Politische Konflikte stillzulegen, indem man alle citoyens zum gleichberech­tigten, ergebnisoffenen Plaudern zusammenruft, ist der versteckte Wunsch von Strauß und Seinesgleichen. Dementsprechend banal sind die politischen Rezepte, die stets am Ende ihrer Texte lauern: »Das Verbindende betonen«, »kulturelle Spaltungen überwinden«, und ja, auch etwas mehr Sozialpolitik würde nicht schaden. In anderen ­Worten: Wenn man die plattesten Allgemeinplätze bürgerlicher Politik noch einmal bekräftigt, dann wird alles gut.

Hinter den immer gleichen Lösungsvorschlägen steht die Weigerung, sich mit den tatsächlichen Problemen zu befassen. Warum nimmt die soziale Ungleichheit in allen westlichen Gesellschaften seit den siebziger Jahren zu? Hat das etwas mit der fundamentalen Dynamik des Kapitalismus zu tun? Ist eine Rückkehr zur sozialdemokra­tische Umverteilungspolitik der Nachkriegszeit überhaupt möglich, ohne die Grundlagen der Wirtschaft fundamental zu verändern? Folgt man diesen Fragen, verlässt man das Reich der Feuilletondebatten und beginnt, ernsthaft über die Gesellschaft nachzudenken.