Der Dopingring aus Erfurt

Im gesamtdeutschen Dopingsumpf

Im Umfeld eines Erfurter Dopingrings tummelten sich Thüringer Würdenträger, frühere Stasi-Spitzel und alte Bekannte.

Für einen österreichischen Langläufer kamen die Beamten zur denkbar ungünstigsten Zeit: Fahnder ertappten den Sportler kurz vor einem Wettkampf der Nordischen Ski-WM im österreichischen Seefeld mit einer Nadel im Arm. Die großangelegte Razzia der Behörden in Österreich und Deutschland galt Ende Februar einem international tätigen Dopingnetzwerk. Die Durchsuchungen waren die direkte Folge umfassender Aussagen des österreichischen Ski­langläufers Johannes Dürr, der schon vor fünf Jahren des Eigenblutdopings überführt worden war. Mit seinen Aussagen in der ARD-Dokumentation »Die Gier nach Gold – Der Weg in die Dopingfalle« Mitte Januar hatte er die Ermittlungen angestoßen. Kurz darauf gab der Wintersportler zu, noch bis Ende 2018 gedopt zu haben. Geholfen habe ihm dabei eine straff organisierte Bande.

»Ich kann ganz klare Parallelen der Machenschaften dieser Gruppierung um den festgenommenen Arzt Dr. Mark Schmidt und anderer Mafia-Organisationen wie der russischen Mafia, der italienischen Mafia oder auch der Balkan-Mafia feststellen«, sagte der leitende Ermittler der Arbeitsgruppe »Organisierte Krimina­lität« des Bundeskriminalamts von Österreich, Dieter Csefan, vergangene Woche auf einer Pressekonferenz. Das vom thüringischen Erfurt aus agierende Netzwerk sei »arbeitsteilig vorgegangen«, jeder habe seine speziellen Aufgaben ausgeführt, zum Beispiel »die Blutbeutel von A nach B zu bringen« oder »die Transfusionen zu setzen«, führte der Beamte aus. Die Organisation sei klar hierarchisch gegliedert gewesen und gezielt vorgegangen.

»Ich kann ganz klare Parallelen der Machenschaften dieser Gruppierung um den festgenommenen Arzt Dr. Mark Schmidt und anderer Mafia-Organisationen wie der russischen Mafia, der italienischen Mafia oder auch der Balkan-Mafia feststellen.«
Dieter Csefan, leitender Ermittler der Arbeitsgruppe »Organisierte Kriminalität« des österreichischen BKA

Der mutmaßliche Drahtzieher Mark Schmidt forderte Athleten den vorliegenden Informationen zufolge direkt zu Dopinganwendungen auf. Wie bei Dealern verbreitet, wurden die Sportler zu Beginn mit kostenlosen Anwendungen geködert. Zudem wurden den Athleten die leistungssteigernden Mittel mit Verweis auf den Erfolg anderer, bereits mit Eigenblut behandelter Sportler schmackhaft gemacht. Schmidt arbeitete mit seiner Mutter in einer Erfurter Gemeinschaftspraxis, die der thüringische Landessportbund (LSB) als offizielle Untersuchungsstelle lizenziert hatte. Nach eigenen Aussagen betreute der Arzt »etwa 50 bis 60 Sportler regelmäßig«, darunter seien Schwimmer, Radsportler, Fußballer, Leichtathleten und Handballer gewesen.

Der Kontakt zum thüringischen Landessportbund war nicht nur sehr eng, er war familiär. Schmidts Vater Ansgard, ein pensionierter Rechtsanwalt aus Erfurt, war jahrzehntelang ehrenamtlich im Vorstand der Thüringer Sporthilfe und des Skiverbands tätig. Nach MDR-Recherchen war Ansgard Schmidt zudem Vorsitzender des Schiedsgerichts im Landessportbund. 2007 erhielt er für sein ehrenamtliches Engagement den Ehrenbrief des Freistaats Thüringen. Im Zuge der Razzien wurde der ehemalige Rechtsanwalt am Rande der Nordischen Ski-WM in Seefeld als mutmaßlicher Komplize festgenommenen. Bis zu seiner Pensionierung hatte Schmidt als Sozius in der angesehenen Erfurter Anwaltskanzlei Spilker & Collegen gearbeitet. Der aus dem Westen zugezogene Hauptgesellschafter Heinz-Jochen Spilker galt als »Haus-, Hof- und Fachanwalt« der Thüringer CDU.

Spilker selbst war in den Siebzigern Bundestrainer für den Sprintbereich der Frauen. Unter seiner Verantwortung als Leichtathletiktrainer des SC Eintracht Hamm in Nordrhein-Westfalen wurden junge Sprinterinnen in den Achtzigern mit Anabolika gedopt. 1994 wurde Spilker wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Urteil gilt als historisch, denn zum ersten Mal wurde damals ein Organisator von Dopingpraktiken in Westdeutschland verurteilt. Nach seiner Übersiedelung in den Osten der Republik reüssierte Spilker in Erfurt. Seiner Kanzlei gehörten zwei ehemalige Minister Thüringens an, er engagierte sich im Rotary Club und war Senator der Gemeinschaft des Erfurter Karnevals. Zudem war Spilker jahrzehntelang Vizepräsident des thüringischen Landessportbunds. Bis heute ist er dort Ehrenmitglied.

Das kürzlich ausgehobene Netzwerk und Personen in der Thüringer Hauptstadt waren in den vergangenen Jahren schon mehrfach Dopingfahndern aufgefallen. Radsportler des Teams Gerolsteiner, die 2008 des Dopings überführt worden waren, hatten den Hauptbeschuldigten Markus Schmidt schon vor zehn Jahren belastet; er sei als Helfer involviert gewesen. Der Arzt stritt alles ab. Vor Gericht ließ er sich zunächst mehrere Male entschuldigen. Im selben Zeitraum wurde der ebenfalls in Erfurt ansässige Sportmediziner An­dreas Franke verdächtigt, Athleten durch Blutmanipulation gedopt zu haben. Franke bestritt die Blutbehand­lung nicht. Er hatte als Honorararzt am Olympia-Stützpunkt den Athleten jahrelang Blut entnommen und dieses mit ultraviolettem Licht bestrahlt. Nach der Prozedur wurde es den Sportlern wieder verabreicht. Diese Methode gehörte zu den Doping­methoden der DDR-Sportmedizin. Ob diese Behandlung überhaupt eine leistungssteigernde Wirkung erzielt, ist allerdings nicht nachgewiesen. Vor Gericht wurde Franke von Spilkers Sozietät vertreten.

Im Zuge der damaligen Ermittlungen kam heraus, dass sich im thü­ringischen Sport viele belastete DDR-Kader in Führungspositionen behauptet hatten, zum Beispiel der Bronzemedaillengewinner bei den Europameisterschaften im Hochsprung 1978, Rolf Beilschmidt. In seiner aktiven Zeit hatte der Sportler unter anderem seine frühere Clubkameradin Ines Geipel für die Staatssicherheit bespitzelt. Als frisch gewählter Vizepräsident des DDR-Sportbunds hatte er in der Wendezeit mit den Vertretern des Deutschen Sportbunds über die Neugestaltung des Spitzensports in Ostdeutschland verhandelt. Ab 1991 leitete Beilschmidt den Olympia-Stützpunkt Thüringen. Er stellte den ehemaligen Biathlon-Co-Nationaltrainer der DDR, Wolfgang Filbrich, ein und vertraute dem Trainingswissenschaftler und ehemaligen Stasi-Spitzel Hans Hartleb als wissenschaftlichem Mitarbeiter am Oberhofer Olympia-Stützpunkt junge Sportler an. Auf Honorarbasis durfte Andreas Franke, der in der DDR bereits als Arzt der damaligen Sportmedizinischen Hauptberatungsstelle Erfurt tätig gewesen war, am Olympia-Stützpunkt in Erfurt arbeiten.

In Thüringen führte die auf beiden Seiten der Mauer jahrzehntelang kultivierte Jagd nach olympischen Medaillen zu einer Symbiose zwischen ehemaligen Stasi-Spitzeln und SED-Kadern sowie westdeutschen Würdenträgern; es entstand ein eng verwobener gesamtdeutscher Dopingsumpf. Nicht zufällig konnten unter einer CDU-geführten Landes­regierung, die sich die Aufarbeitung der Geschichte des »Unrechtsstaats« (Bernhard Vogel, CDU) auf die Fahnen geschrieben hatte, zahlreiche ehemalige DDR-Kader im Sportbereich eine zweite Karriere beginnen.

Der erste Präsident des Landes­sport­bunds in Thüringen war Manfred Thieß, ein Professor für Sport­soziologie und ehemaliger SED-Kader aus Jena. Mitte der neunziger Jahre geriet er unter Verdacht, ein Zuträger der Staatssicherheit gewesen zu sein, und musste zurücktreten. Über einen Studenten und Leichtathleten hatte er zu DDR-Zeiten berichtet, dieser sei »ehrgeizig, egoistisch, westlich orientiert« und »nutzt westdeutsche Sportler als Informationsquelle«. Zu einer »progressiven Rolle« sei der Sportler »aufgrund seiner charakterlichen Haltung und politischen Einstellung nicht in der Lage«.

Nachfolger von Thieß wurde Peter Gösel, ebenfalls ein ehemaliges Mitglied der SED. Im Hauptberuf war Gösel für die Organisation von Militärtransporten bei der Direktion der Reichsbahn in Erfurt zuständig gewesen. Thieß kehrte unterdessen als ­Vizepräsident des Landessportbunds in ein Amt zurück. Später wurde er Leiter der Sportakademie Thüringen, diesen Posten bekleidete er, bis er in Rente ging. Doch nicht nur im Landessportbund setzten sich die ehemaligen Kader durch. Der im Thüringer Sozialministerium jahrelang für Sport zuständige Referatsleiter, Klaus Fiedler, war zu DDR-Zeiten Lauf- und Sprinttrainer beim Leistungssportclub Turbine Erfurt.