Bereits Grundschüler werden zur ständigen Selbstoptimierung genötigt

Für die Ziellosigkeit

Auf »Ziele« hinarbeiten zu müssen, ist eine verbreitete Forderung. ­ Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem die Menschen sich nicht optimieren sollen. Doch ein zielfreier Raum wäre wünschens­wert.

Zu Beginn des Schuljahrs kam mein Sohn mit einem neuen Schulplaner nach Hause. Komplett neues Design, komplett neuer Inhalt. Schulplaner sind gerade der letzte Schrei. Sie haben in der Regel das Format DIN A5, auf ihrer Vorderseite prangt das jeweilige Schullogo und sie dienen als Hausaufgaben-, Mitteilungs- und Rückmeldeheft. Genau wie die Schulkleidung ist der Planer Teil der corporate identity moderner Schulen geworden. Man erwirbt ihn käuflich und er begleitet die lieben Kleinen dann ein ganzes Schuljahr lang.

Neben dem neuen Design wartete der Schulplaner meines Sohnes in diesem Jahr mit einer weiteren, jedoch inhaltlichen Änderung auf: Die Schüler müssen sich im aktuellen Schuljahr wöchentlich »Ziele« überlegen: »In diesem Fach setze ich mir ein Ziel«, und: »Ich nehme mir für diese Woche vor«. Am Ende der Woche wird evaluiert, ob die Ziele erreicht wurden. Bei der Auswertung kann angekreuzt werden, ob das Ziel erreicht, zum Teil erreicht oder nicht erreicht wurde. Eine Unterschrift des Schülers schließt das Prozedere ab und in der Folgewoche geht das Spiel von vorne los.

Auf Nachfrage sagte die Klassenlehrerin, dass sie angehalten sei, mit den Schülern dieses Verfahren einzuhalten. Und sie führte aus, dass das gesamte Kollegium fortgebildet werde, um mit den Schülern »Smart-Ziele« zu formulieren. Wenn man sich die Ziele meines Sohnes und seiner Freunde ansieht, erkennt man schnell, dass die Kinder das tun, was Kinder wahrscheinlich ganz automatisch tun: Sie denken sich Ziele aus, die nicht wehtun und die eigentlich schon bei der Niederschrift erfüllt sind. »Ich denke an mein Sportzeug« – kein Problem, denn das Sportzeug bleibt ohnehin in der Schule. So hat man am wenigsten Ärger und kann demnach häufig »erreicht« ankreuzen. Das ist selbstverständlich nicht im Sinne des Erfinders, schließlich sind wirkliche Ziele nur welche, die durch Anstrengung, Arbeit, Fleiß erreicht werden. Aus diesem Grund sollen die Kinder ja auch lernen, sich »smarte« Ziele zu setzen. Wenn man genauer hinsieht, erfährt man, dass derzeit die Kollegien aller Hamburger Schulen darin fortgebildet werden. Zur Begründung heißt es, man habe in »der Wirtschaft« erkannt, dass Projekte vor allem an zweierlei scheiterten: am Geld und an schwammig formulierten Zielen. So erklärt es eine Mitarbeiterin der Schulbehörde, die nicht namentlich genannt werden möchte, da sie dem Ganzen kritisch gegenüber stehe.

In der Schule wird der Irrsinn dieses Systems deutlich, sie nimmt den Drill vorweg, damit die Mitarbeiter von morgen schon heute genau wissen, was von ihnen verlangt wird.

Also hat »die Wirtschaft« solche Smart-Ziele entwickelt. Smart – s steht für spezifisch, m für messbar, a für attraktiv, r für realistisch und t für terminiert. Klingt auf den ersten Blick lustig? Auf den zweiten Blick bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Der Soziologe Harald Welzer hat eines seiner jüngsten Bücher »Die smarte Diktatur« genannt. Er beschreibt darin, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft zu entwickeln droht: Nicht zu einer Diktatur mit Uniformen, Zwang, Paraden und Lagern, sondern zu einer des freiwilligen Verzichts auf immer mehr Freiheiten, des Preisgebens der Privatsphäre und der freiwilligen Selbst­optimierung. Die Saat für diese Selbst­optimierung, die alle kennen, die in »der Wirtschaft« arbeiten, wird in Deutschland immer früher gelegt, in den Schulen, und zwar bis hinunter zu den Grundschulen. Doch während man in der ersten Klasse bei sogenannten Lernentwicklungsgesprächen nur ein Ziel pro Jahr oder Halbjahr festlegt, müssen die Schüler an der Schule meines Sohnes jede Woche ihre Ziele festlegen. Und diese müssen »messbar« sein. Nun könnte man frohlocken, dass es doch toll sei, möglichst früh auf die reale Welt vorbereitet zu werden. Viel ­Widerspruch regt sich bislang auch nicht. In Deutschland wird der zielfreie Raum immer kleiner.

Dabei handeln Menschen fast immer zielorientiert. Selbst noch unter Einfluss von Drogen, bei psychischen Erkrankungen oder anderweitig eingeschränkter Handlungsfähigkeit treffen sie jeden Tag Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Entscheidungen, ohne sie schriftlich zu fixieren. Trinken wir am Morgen einen Kaffee oder einen Tee? In dem Fall ist die Wahl wahrscheinlich schon zur Gewohnheit geworden. Ob man mit dem Fahrrad oder mit dem Auto fährt, entscheidet sich nach Fitnesszustand oder Wetter. Jeder von uns trifft jeden Tag unzählige Entscheidungen. Sie zeichnen das menschliche Leben aus. Manchmal sind wir mit dem Ergebnis zufrieden, dann wieder sind ganze Tage für die Katz, weil alles schieflief. Manchmal entsteht ungeplant etwas ganz Kreatives. Kaum vorstellbar, dass Steve Jobs das Ziel »Ich baue einen Apple-Computer« aufschrieb, bevor er in die Garage ging. Ganz oft modifizieren wir Ziele selbstständig, weil der eingeschlagene Weg in die falsche Richtung führt. Nur selten halten wir diese Wendungen schriftlich fest. Zum Glück.

Zu allem Überfluss gibt es da auch noch das bereits 1880 von Paul Lafargue geforderte »Recht auf Faulheit«. In seinem gleichnamigen Werk kritisierte Lafargue die »Arbeitssucht« und die Degradierung des Menschen auf die »Rolle einer Maschine«. Auch wenn vieles an Lafargues Kritik in seiner Zeit verwurzelt ist, in einem Punkt reichen seine Forderungen bis in die heutige Welt der »smarten Ziele«: Man darf schlicht und ergreifend nicht schreiben, dass man für die Woche keine Ziele hat. Noch undenkbarer wäre solch ein Verhalten in face to face-Gesprächen mit dem Vorgesetzten in der sogenannten freien Wirtschaft. »Ich nehme mir für die nächste Woche nichts vor« – dieser Gedanke ist in der Arbeitswelt undenkbar. Er widerstrebt dem Grundgedanken der Optimierung und würde im Berufsleben zu großen Schwierigkeiten führen.

In der Schule mittlerweile auch. Aus diesem Grund sollen die sogenannten Smart-Ziele »attraktiv« sein. Im Netz finden sich dazu Dutzende Beschreibungen: »Ihr Ziel sollte ihnen bestenfalls Vorfreude bereiten«, heißt es auf der Beratungsseite Zeitblueten.com. »Die Ziele müssen für die Person ansprechend beziehungsweise erstrebenswert sein«, liest man bei Wikipedia. Ziele sind omnipräsent. Aber sind zielfreie Momente nicht auch menschliches Leben? Dümpelt nicht jeder einmal in den Tag hinein, hat keine Lust auf Steigerung, ist mit dem Erreichten zufrieden? Oder wäre das zumindest gerne? Gibt es dafür nicht auch eine Berechtigung?

In einer Gesellschaft, die auf permanenter Gewinnmaximierung aufbaut, sind Menschen eben auch nur zu optimierende Mittel zu diesem Zweck. Die Frage ist immer, was mit Verweigerern und Menschen passiert, die einfach nicht mehr leisten können. Dürfen sie zumindest zielminimiert leben? Oder geraten sie ebenfalls uneingeschränkt unter Optimierungsdruck? In der Schule wird der Irrsinn dieses Systems deutlich, sie nimmt den Drill vorweg, damit die Mitarbeiter von morgen schon heute genau wissen, was von ihnen verlangt wird. Das Feld für die Ziele im Schulplaner darf auf keinen Fall freibleiben. Erst wenn ein Ziel gefunden worden ist, enden Lernentwicklungsgespräche. Ein leeres Blatt ist in diesem System undenkbar. Die Kinder mit ihren Schulplanern werden auf eine Welt vorbereitet, in der der Chef monatlich im Mitarbeitergespräch die neuen Ziele festlegt. Vom zielorientierten Verhalten hängen der Job und damit das Familieneinkommen ab. Später darf man sich dann einreihen in die immer länger werdende Schlange der Menschen, die unter Depressionen, Stress oder Burnout-Syndrom leiden. Vielleicht sollte man eine bessere, weil zielfreiere Welt anstreben. Das wäre doch mal ein Ziel.