Der Kosmopolitismus und die Erfindung der »globalisierten Klasse«

Gegen Wurzeln und Vaterländerei

Bislang ist der Kosmopolitismus nur eine Erfindung seiner Feinde. Nötig wäre es aber schon, eine sozialistische kosmopolitische Bewegung aufzubauen. Nur wie?

Der »wurzellose Kosmopolitismus« ist keine Erfindung der Rechten. Der Begriff wurde erstmals Ende der vierziger Jahre in der stalinistischen Propaganda benutzt. Um als wurzelloser Kosmo­polit zu gelten, musste man damals Dissident, in Ungnade gefallen, Jude oder ein Kulturschaffender sein, der auch einmal etwas anderes darstellen wollte als muskulöse Recken im Stahlwerk und durch diese »Abkehr von der Volkstümlichkeit« zur »Zerstörung des Nationalbewusstseins« beitrug, wie es Hans Lauter, Mitglied des ZK der SED, 1951 formulierte. Kosmopolitismus galt Lauter »objektiv« als »Unterstützung der Kriegspolitik des ameri­kanischen Imperialismus«. Denn wer regiert da? »Die bourgeoisen ›Geldmenschen‹«, und den »Geldmenschen«, so der DDR-Philosoph Ernst Hoffmann 1949, kennzeichne »völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal seiner Heimat und seines Volkes«, die ihn zu »Verschacherung und Verrat seines Volkes« treibe.

Es ist kein Zufall, dass heutige Tiraden gegen den Kosmopolitismus ­erstaunlich ähnlich klingen, auch wenn man sich nun selbst in der extremen Rechten etwas mehr Mühe gibt, sein anti­semitisches Ressentiment zu verbergen und »Soros« statt »Jude« oder »Geldmensch« sagt. Die extreme Rechte hegte immer Bewunderung für das Pathos, den militaristischen Männlichkeitskult, den Antiintellektualismus und nicht zuletzt die Rücksichtslosigkeit des Stalinismus – von Stalin lernen heißt Säubern lernen. Ähnliches gilt für autori­täre Linke, die anders als die Rechten das Problem haben, mit dem sich schon Stalin herumschlagen musste: Wie lässt sich der Universalismus aus der linken Theorie exorzieren?

Die Konstruktion der »globalisierten Klasse« ist ein Präventivschlag gegen eine Bewegung, die es noch gar nicht gibt, aber geben könnte und geben müsste. Die Entwicklung der Produktivkräfte sowie der Kapital- und Warenverkehr haben einen globalen Wirtschaftsraum geschaffen.

Am besten durch die Erfindung einer »globalisierten Klasse«, die dem angeblich naturgemäß im Heimatboden verwurzelten »Volk« gegenübergestellt wird. Es ist daher auch kein Zufall, dass Kosmopoliten damals wie heute durch kulturelle Zuschreibungen identifiziert werden, die angeblich eine »Abkehr von der Volkstümlichkeit« ausmachen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nörgelt über »elitäre Hipster«, die in deutschen Cafés Englisch sprechen, Alexander Gauland (AfD) beklagt sich über eine »urbane Elite«: »Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ­ziehen, finden sie überall ähnliche ­Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen.« Sahra Wagenknecht (Linkspartei) erschaudert vor der »glitzernden Hülle linksliberaler Werte«. Doch auch wenn der Kosmopolitismus nicht als Feindbild, sondern als »plastisch beschreibbare Realität« dargestellt werden soll, wie von Adam Soboczynski in der Zeit, wird kein soziologischer Befund, sondern eine schon oft so beschriebene Lebens­weise präsentiert: »Man wohnt vorzugsweise in den urbanen Vierteln westlicher Großstädte, wo es gesundes Essen, Geschlechtervielfalt, Migranten, georgische Chatschapuri-Restaurants, gute, vor allem besondere Schulen, niedrige Feinstaubwerte, Tempo-30-Zonen und so weiter gibt.«

Ob etwa unter Expats, die am ehesten dem Klischee der »globalen Elite« entsprechen, der Rassismus schwächer ausgeprägt ist als unter den Indigenen in einer sächsischen Kleinstadt, ist keineswegs sicher. Es fehlt an soziologischen Untersuchungen, man weiß jedoch, dass die meisten Menschen auch an die entferntesten Orte ihre Ressentiments mitnehmen – sowie ihren Auftrag, der in der Regel darin besteht, ein Unternehmen oder eine Institution und ­damit von wenigen Ausnahmen abgesehen zumindest indirekt auch »ihre« Nation in der globalen Konkurrenz zu vertreten. Andererseits findet man Kosmopolitismus dort, wo seine Feinde ihn nicht vermuten würden.

Das Wahnbild des Zersetzungswerks, das georgische Köche, Hipster und ­Yogalehrerinnen im Auftrag finsterer Mächte am Volkstum verüben, sagt mehr über dessen Urheber aus als über die Realität. Die Konstruktion der »globalisierten Klasse« ist ein Präventivschlag gegen eine Bewegung, die es noch gar nicht gibt, aber geben könnte und geben müsste. Die Entwicklung der Produktivkräfte sowie der Kapital- und Warenverkehr haben einen globalen Wirtschaftsraum geschaffen. Dessen Verwaltung aber obliegt knapp 200 ­Nationalstaaten, die untereinander im Wettbewerb um die besten Kapitalverwertungsbedingungen stehen und die Interessen »ihrer« Unternehmen vertreten. Deshalb mag der einzelne Bourgeois sich als Weltbürger gerieren, doch kann er nicht mehr sein als ein Connaisseur exotischer Küchen und Kunststile, da er auf die politische Unterstützung seiner Regierung nicht verzichten will.

Der Kapitalismus hat nicht nur die ökonomischen Voraussetzungen für die Überwindung des Nationalstaats geschaffen, sondern diese auch notwendig gemacht, kann sie aber nicht bewerkstelligen. Schon vergleichs­weise banale Probleme wie die Besteuerung global operierender Konzerne sind im nationalen Rahmen nicht mehr lösbar, erst recht gilt das für den Klimawandel. Überdies schränkt die Existenz von Nationalstaaten das Recht ein, sich frei zu bewegen – die UN-Menschenrechtserklärung gewährt es nur »innerhalb eines Staates« –, und macht damit die Mögtlichkeit, Lebenschancen zu nutzen, zu einer Frage des zufälligen ­Geburtsorts.

Dass die Bourgeoisie die Voraussetzungen für eine globale Zivilisation schafft, diese aber vom Proletariat vollendet werden muss, wird bereits im Kommunistischen Manifest postuliert. Die Überwindung der Vaterländerei hat sich jedoch als schwieriger erwiesen, als man damals annahm – nicht zuletzt aufgrund einer Retraditionalisierung in der sozialistischen Bewegung selbst. Der Stalinismus basiert auf dem Rückzug in den Nationalstaat: »Sozia­lismus in einem Land« statt Weltrevolution. Dies zog andere reaktionäre Entwicklungen zwangsläufig nach sich. Denn nun musste anstelle eines uni­versalistischen, über das Bestehende hinausweisenden Kulturbegriffs, wie er die frühe Sowjetunion kennzeichnete, ein Patriotismus kreiert werden, der auf die Vergangenheit zurückgriff und das traditionelle Familienbild rehabilitierte und abstrakte Kunst verwarf.

Die derzeit unter Linkspopulisten kursierende Vorstellung, der Sozialstaat müsse vor Migration geschützt werden, steht in dieser Tradition. Den »Sozialstaat in einem Land« kann es aber allenfalls in einigen wenigen sehr reichen Ländern geben – Deutschland gehört dazu –, die in der globalen Konkurrenz weit genug vorn liegen und einen ausreichenden Verteilungsspielraum haben. Die Ablehnung der »Einwanderung in die Sozialsysteme« führt zwangsläufig zur Identifikation mit dem »eigenen« Staat und dessen Interessen, also denen der relevanten Unternehmen. Damit geht eine Entsolidarisierung mit den Lohnabhängigen anderer Länder einher, die ja in dieser Sichtweise Konkurrenten im Kampf um Geld und Arbeitsplätze sind. Kann man so machen, mit linker Politik hat es allerdings nichts zu tun. Es muss daher eine ideologische Rechtfertigung gebastelt werden, die nicht zufällig der stalinistischen Retraditionalisierung ähnelt. Der Begriff Heimat wird wiederentdeckt, die LGBTIQ*-Bewegung als antiproletarische Verschwörung gedeutet und Diether Dehm liefert die Begleitmusik.

Diese Tendenz gibt es nicht nur in Deutschland, und sie ist die derzeit ­gefährlichste Fehlentwicklung in der Linken. Denn notwendig wäre eine transnationale Solidarisierung der Lohnabhängigen gegen den Wettbewerbsstaat, der die Lebensbedingungen aller verschlechtert. Dass wegen der Konkurrenz kapitalistischer Nationalstaaten die globale Erwärmung nicht rechtzeitig gestoppt werden kann, ist ebenfalls offenkundig. Zudem gewinnt das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit, also Migration, und rechtliche Gleichstellung der Migranten mit den Staatsbürgern im globalisierten Kapitalismus an Bedeutung – nur eine Minderheit der mobilen Lohnabhängigen erlangt den vergleichsweise sicheren und respektierten Status des Expats.

Diese Probleme müssten transnational politisiert werden, um von der ­diffusen Vorstellung eines Weltbürgertums zu einem sozialistischen Kosmopolitismus zu kommen. Es handelt sich überwiegend um Probleme von Lohnabhängigen, auch die Folgen des Klimawandels treffen Arme und Reiche nicht gleich hart. Dringlich ist daher vor ­allem die Globalisierung der Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung. Der Kosmopolitismus bedarf aber auch demokratisch legitimierter politischer Institutionen und Netzwerke, die jenseits der Nationalstaaten Einfluss gewinnen und den Boden für deren Aufhebung bereiten können. Schließlich geht es nicht um die Schaffung einer zentralistischen Weltregierung, sondern um globale Selbstverwaltung, die durch Gremien zur Lösung planetarer Probleme ergänzt wird. Hier könnten Städte eine entscheidende Rolle spielen. Viele haben sich bereits für den Klimaschutz oder zur Abwehr einer restriktiven Migrations- und Flüchtlingspolitik zusammengetan.

Die erste Runde im Kampf gegen den Kapitalismus hat die Linke verpatzt, der Rückzug auf das »sozialistische Vaterland« ist Ausdruck dieses Scheiterns und machte die Erfindung des »wurzellosen Kosmopolitismus« notwendig, die sich auch bei den Rechten großer Beliebtheit erfreut. Eine Propagandaformel – aber sie zeigt auch die Angst des autoritären Charakters davor, dass die Menschen ihren Horizont ­erweitern und gegen beengende Verhältnisse aufbegehren könnten. In den kommenden Jahrzehnten wird sich zeigen, ob diese Angst berechtigt ist und tatsächlich eine kosmopolitische Bewegung entsteht.