1989, Berlin: zwischen Niemandsland und urbaner Utopie

Das Ende und der Anfang

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Dazu gehörten Läden wie das Berliner Fischlabor, das Ufo oder das Planet und kreative Köpfe wie Elsa Wormeck, Hans-Otto Richter oder der später als godfather der Videoanimation berühmt gewordene Peter Rubin. Auch der 2011 verstorbene Ralf Regitz zählte zu den prägenden Persönlichkeiten, einer, der die Dinge zusammengedacht hatte, den Sound, die Kunst, das Digitale. Als Kay ihm zum ersten Mal begegnete, hatte Regitz wie üblich Brandy getrunken, das Glas in kleine Stücke zerbrochen und die Scherben aufgehäuft. In jenen Tagen gab es in dessen Wohnung die Space Agency, eine Mischung aus Privatbar, Minirestaurant und Kunstclub, in der sich der Underground der achtziger Jahre mit dem verband, was neu in der Stadt aufkam und noch namenlos war. Hier lief auf Monitoren MTV in Dauerschleife, ohne Ton, und später, zur Zeit des ersten Golfkriegs, CNN.

Die Fragen, die über allem unausgesprochen schwebten, waren: In welcher Gesellschaft werden wir leben? Wie wird die Zukunft aussehen? Und die Antwort lautete: Wir bauen das global village. Wir fangen schon mal an.

Elektronische Musik war dabei nicht das eine große Ding, als das sie rück­blickend erscheinen mag, sondern Teil der Geschichte – wenn auch ein wesentlicher: »Es ist erstmal Musik ohne Worte«, sagt Kay. »Es gibt keine Sprache. Es gibt keinen Gesang. Es gibt nur künstlich generierte Töne. Und die wiederholen sich ständig. Denn es geht auch um Trance: Die Clubs sind dunkel. Dann wird auch noch Nebel reingepumpt. Später kommen Bilder dazu, Videobilder. Gesellschaft, Tiere, Krieg, Nachrichten, Trash. Alle möglichen abstrakten Formen.«

Neu sei dabei gewesen, dass der DJ zum ersten Mal nicht mehr auf einer Kanzel, sondern auf dem Dance­floor, auf gleicher Höhe wie die anderen, in ­einer dunklen Ecke stand und nur ein Arbeitslicht hatte. Der DJ war der ­Gegenentwurf zum Popstar. Was auch damit zusammenhing, dass niemand mehr ein Studio oder eine Band brauchte. Ein Computer reichte aus, um selbst Musik produzieren zu können.

Clubkultur funktionierte wie eine riesige Projektionsfläche. Und war gleichzeitig die Wirklichkeit, die hier und jetzt stattfand und veränderbar war. Mit Modem und Akustikkoppler in einen fremden Rechner zu gelangen, also in ein paralleles Universum einzutreten, um sich mit jemandem auszutauschen – das war das eine. Das andere aber war, dass diese Parallelwelt plötzlich ein Space sein konnte, in dem das in einsamen Nächten Programmierte für alle erlebbar wurde. Niemand begriff zu der Zeit, dass 1989 einmal ein historisches Jahr werden würde. Die Sowjetunion – verschwunden, der Kalte Krieg – zu Ende, Europa – vor einem Neustart. Und aus dem einsetzenden Internethype würde, auch das ahnte niemand, ein neues, das ­digitale Zeitalter erwachsen. Die Fragen, die über allem unausgesprochen schwebten, waren: In welcher Gesellschaft werden wir leben? Wie wird die Zukunft aussehen? Und die Antwort lautete: Wir bauen das global village. Wir fangen schon mal an. Alles wird gut. Kay gehörte zu den zahllosen Pionieren der Stadt. Für einen wie ihn zählte ein Videomixer mit der Bezeichnung MX 50 – mit dem man Bilder übereinanderlegen konnte – genauso viel wie ein Morgen an der Spree, nach einer Nacht im Planet. Die Sonne ging auf und man hörte noch, wie die Bässe durch das Blechdach schepperten. 1989 war ein magisches Jahr. Ein Jahr des Aufbruchs, der neuen Allianzen, des freien Tuns, des wilden Programmierens und Forschens. Es dauerte vielleicht drei Jahre. Und es ging zu Ende, als Turnschuh- und Zigarettenfirmen ein Phänomen entdeckten, das sie Techno nannten, ohne zu wissen, was da gerade passiert. Dass es wiederkehrt, ist nicht anzunehmen. Ein anderes wird folgen, wann genau, wer weiß das schon.