Lahme Literaten - Folge 2

Daniel Kehlmann

Kolumne Von

Ist Martin Mosebach der Gustav Freytag der Postmoderne, lässt sich Daniel Kehlmann als Thomas Pynchon für Geo-Leser bezeichnen. Wie Pynchon versetzt er in seinen Romanen gern historische Figuren in fiktionale, weit ausgreifende Plots und neigt zu schwieriger Selbstreflexivität. Doch während sich Pynchon seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Sturheit und notfalls juristischer Hilfe gegen die öffentliche Neugier an seiner Person wehrt, belästigt der fast 40 Jahre jüngere Kehlmann seit Beginn seiner Karriere alle Medien mit seiner drögen Musterschülergegenwart. Seit er 2001 Gastdozent für Poetik an der Mainzer Universität war, jettet der stets wie Mamis Liebling gescheitelte Provinzkosmopolit, der sich wegen seiner krass hybriden Identität als in New York und Berlin lebender Deutsch-Österreicher und seiner Vorliebe für E. L. Doctorow wie ein Handelsreisender der Weltliteratur fühlt, von Poetikdozentur zu Poetikdozentur, um für seine Mittelklasseästhetik zu werben. Dabei findet er zu Sätzen, die der von ihm vielgelobte Karl Kraus nicht besser hätte parodieren können: »Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten«; »Erzählen, das bedeutet einen Bogen spannen, wo zunächst keiner ist.«

Da Kehlmann, der über seine Echtzeit-Rezeption Buch führt wie ein Bundespressesprecher, Wikipedia nicht mag, sei eingestanden, dass diese Zitate aus Wikipedia stammen. Wikipedia ist nämlich, wie er 2007 erkannt hat, »Hauptquelle« vieler über ihn schreibender Journalisten, was man diesen nicht verdenken kann. Der Erfolg seines 2005 veröffentlichten Romans »Die Vermessung der Welt«, in dem Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt sich auf gefühlten 1 000 Seiten in einer Handlung verfilzen, die den irreführenden Eindruck erweckt, die gebildeten Stände wären damals so brotdoof gewesen wie heute, legt sogar den Verdacht nahe, dass Millionen von Kehlmanns Kunden ihn nur durch Wikipedia kennen. Wäre es so, es wäre nicht das schlechteste Argument gegen den Gemeinplatz, die Leute wüssten nichts mit ihrer Zeit anzufangen: Man ist zwar blöd genug, um Kehlmann zu kaufen, aber Kehlmann zu lesen, daran hindert einen dann doch das Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Lebens. Die Wissenschaft nennt diese Rezeptionspraxis »Interpassivität«, Kehlmanns Büchern ist sie angemessen, weil er sie selbst praktiziert. Das Herumblättern in der Biographie ­eines Magiers ergibt die Lebensgeschichte eines Magiers (»Beerholms Vorstellung«, 1997); aus im Keller verschimmelten Büchern zur Kunstgeschichte entsteht ein Roman über Kunstgeschichtler (»Ich und Kaminski«, 2003); und die Einsicht, dass man von Naturkunde nicht mehr versteht als von Mathematik, findet ihren Ausdruck in einem Buch über Humboldt und Gauß. Sein Crossover von Phantasie und Wirklichkeit hat Kehlmann zuletzt in einem Roman über Till Eulenspiegel zum Thema gemacht, in dem es überraschend um Wahrheit und Lüge geht (»Tyll«, 2017). Umberto Eco konnte aus dem ironischen Umgang mit Halbwissen unterhaltsame Literatur entstehen lassen. Sein weltvermesserischer Wiedergänger aber liest sich nicht anders, als Wikipedia ihn zusammenfasst: »Kehlmann erfindet seine Protagonisten und ihre Geschichten und versetzt sich und den Leser – in einer Art Experiment – in ihre Perspektive. Seine Helden sind in der Regel auf die eine oder andere Art extreme Figuren. (…) Die Spannung entsteht nicht zuletzt aus der Frage, ob und wie diese extremen Charaktere scheitern.« Wer nach dieser Synopsis total neugierig und supergespannt auf Kehlmanns Bücher ist, dem könnten sie tatsächlich gefallen.