Vor 50 Jahren starb Willy Meisl, der vergessene Vater der modernen Sportberichterstattung

Das Ende des Hexameters

Vor 50 Jahren starb Willy Meisl, der vergessene Vater der modernen Sportberichterstattung.

Als die deutsche Mannschaft 1954 bei der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz im Finale mit 3:2 gegen Ungarn gewann – was später in Deutschland zum »Wunder von Bern« verklärt werden sollte –, stieß der Sportjournalist Friedrich Torberg tief betroffen den Stoßseufzer aus: »Das ist das Ende der Poesie im Fußball.« Sein Kollege Willy Meisl, der neben ihm stand, konterte: »Es ist nur das Ende des Hexameters.«

Diese Anekdote, die in Fachkreisen weiterhin gerne erzählt wird, illus­triert ganz wunderbar, was Willy Meisl ausmachte: höchste verbale Schlagfertigkeit, gepaart mit einer ­Intelligenz, deren Schärfe nur selten ihresgleichen fand. Vor 50 Jahren starb Meisl an einem Krebsleiden. Während manche noch seinen älteren Bruder Hugo kennen, weil dieser der Trainer des österreichischen »Wunderteams« in den frühen ­dreißiger Jahren war, ist der Name Willy Meisl nur mehr wenigen ein Begriff, obwohl er die Art, wie über Sport geschrieben wird, veränderte wie kein anderer.

Wien, Anfang der zwanziger Jahre: Die Gebrüder Meisl, Söhne einer ­jüdischen Familie aus Böhmen, hatten den Ersten Weltkrieg überlebt und widmeten sich wieder voll und ganz ihrer Leidenschaft für Sport. Hugo betätigte sich als Fußballspieler und Trainer, Wilhelm, genannt Willy, als Boxer, Schwimmer, Wasserballspieler und Amateurkicker. Fast nebenbei schloss Willy auf Drängen seiner Eltern ein Jurastudium ab, stellte jedoch rasch fest, dass die Juristerei ihn nicht begeistern konnte. Er schrieb lieber – und das sehr gut. Für das Wiener Sport-Tagblatt verfasste Meisl Berichte und Kolumnen, die sich ganz anders lasen als das, was die Kollegen zu Papier brachten. Die Sportberichterstattung bestand damals überwiegend aus simplen, sprachlich meist holprigen Nacherzählungen von Spielen und Wettkämpfen. Viele Zeitungsherausgeber hielten Sportinteressierte für einfache Gemüter, denen allzu komplexe Texte nicht zumutbar wären. Meisl hingegen schrieb Artikel von hoher literarischer Qualität, die sich ebenso durch große Sachkunde auszeichneten wie durch feinen Humor und einen Umgang mit der deutschen Sprache, wie ihn sonst nur namhafte Literaten pflegten.

1923 zog Meisl nach Schweden, wo er für Dagens Nyheter schrieb und zugleich den Stockholmer Fußballverein Hammarby coachte. Dort erreicht ihn eine Anfrage des Ullstein-Verlags, für die BZ, die erste Boulevardzeitung Deutschlands, von den Olympischen Spielen 1924 in Paris zu berichten.

1955 veröffentlichte Meisl sein wohl wichtigstes Buch, »Soccer Revolution«. Es wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt.

Meisl willigte ein. Was er aus Paris telegraphierte, beeindruckte die Verlagsleitung und die Leserinnen und Leser so sehr, dass man ihm anbot, für Ullsteins Qualitätsblatt Vossische Zeitung ein Sportressort mit feuilletonistischem Anspruch aufzubauen. Er sagte zu und wurde bald leitender Sportredakteur. Daneben schrieb er auch für andere Publikationen wie den Kicker und veröffentlichte eine Reihe von Sportbüchern, darunter das immer noch relevante Standardwerk »Das ABC des Fußballspiels« und die Essaysammlung »Der Sport am Scheidewege«, für die kein Geringerer als Egon Erwin Kisch das Vorwort und Bert Brecht einen Beitrag über das Boxen schrieb. Meisl selbst setzte sich in seinem Essay kritisch mit der Transformation des Sports in einen hochprofitablen Wirtschaftsbereich auseinander und äußerte sich negativ über die herablassende Sport- und Körperfeindlichkeit mancher Intellektueller seiner Zeit.

Nachdem 1933 die Nazis die Macht in Deutschland übernommen hatten, hoffte Meisl zunächst, ihre antisemitische Rhetorik werde sich nicht in konkreter Politik niederschlagen. Zur Sicherheit ließ er seine militärischen Dienstzeugnisse aus Wien kommen, um beweisen zu können, im Weltkrieg ehrenhaft gedient zu haben. Doch schon die ersten Maßnahmen der Nazis gegen die Juden zerstörten alle Illusionen und Meisl bereitete sich auf die Emigration vor. Als letzten kleinen Akt des widerständigen Trotzes veröffentlichte er im April 1933 in der Vossischen Zeitung einen langen Text unter dem Titel »Von ›Danny‹ Mendoza bis Carr«, in dem er auf die zahlreichen großen Leistungen jüdischer Sportler hinwies. Die Nazis schäumten vor Wut, aber die entsprechende Ausgabe der Zeitung wurde eine der meistverkauften in der Verlagsgeschichte. Wenige Monate danach ging Meisl nach Großbritannien, wo er sein ­Gebrauchsenglisch binnen kürzester Zeit so aufpolierte, dass er bereits 1935 für britische Zeitungen schreiben konnte, denen er auch als Kor­respondent für Europa zuarbeitete. Aus der Emigration heraus musste er beobachten, wie sich etliche frühere Kollegen, von denen er einige zu seinen Freunden gerechnet hatte, bei den Nazis anbiederten.

Kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Meisl General­sekretär von Maccabi International, des weltweiten jüdischen Sportverbands. Er hatte bereits lange zuvor Sympathien für den Zionismus entwickelt und galt als Freund und Förderer von Hakoah, dem jüdischen Wiener Sportverein, der einige der besten Sportlerinnen und Sportler der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hatte. In einem Essay ging Meisl sogar so weit zu behaupten, Hakoah sei »die größte schöpferische Leistung des Wiener Judentums«. Nachdem Deutschland Polen überfallen und damit den nächsten Weltkrieg begonnen hatte, ging Meisl zur britischen Armee, wo er unter anderem als Übersetzer tätig war.

Nach dem Krieg behielt Meisl seinen Hauptwohnsitz in England, schrieb aber wieder für deutsche, österreichische und Schweizer Zeitungen. 1955 veröffentlichte er sein wohl wichtigstes Buch, »Soccer Revolution«, in dem er die Geschichte des Fußballs nachzeichnete und vor allem darauf einging, warum der ­europäische, zumal der englische Fußball gegenüber dem lateinamerikanischen ins Hintertreffen zu ge­raten drohte. »Soccer Revolution« ist brillant geschrieben und gehört in den Bücherschrank all derjenigen, die sich für Fußball interessieren. Leider zeigt sich hier ein weiteres Mal, wie wenig man sich in den Nach­folgestaaten Nazideutschlands für die intellektuellen Leistungen vertriebener Juden interessierte: Das Buch wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt.

In den späten fünfziger Jahren erkrankte Meisl an Krebs und zog ins schweizerische Tessin, wo er sich Linderung durch das milde Klima erhoffte. Am 12. Juli 1968 verstarb der große Mann des Sportjournalismus in Lugano.