Am 3. Oktober marschierten etwa 1 500 Neonazis fast unbehelligt durch Berlin

»Danke an die Polizei«

Fast unbehelligt zogen am 3. Oktober 1 500 Neonazis durch Berlin. Dabei zeigte sich, dass auch in der rot-rot-grün regierten Hauptstadt die Toleranzschwelle für rechtsextreme Straftaten hoch ist.

Weit mehr als 1 000 Neonazis ziehen durch die Innenstadt, unter ihnen ­aggressive, gewaltsuchende Männer aus dem Hooligan-Milieu. Sie sind teil­weise vermummt, einige zeigen den verbotenen Hitlergruß. Die Polizei greift nicht ein, sie begleitet den Aufmarsch mit recht wenigen Beamten. Der antifaschistische Gegenprotest ist kleiner als der rechte Aufmarsch. ­Blockadeversuche werden von der Polizei verhindert. Was wie einer der ­Berichte aus Chemnitz klingt, spielte sich in Berlin ab – am »Tag der deutschen Einheit«.

Die Polizei verhinderte Blockaden des rechts­­extremen Aufmarsches und ging teils gewaltsam gegen keineswegs mili­tante Gegenproteste vor.

Derzeit gibt es wegen der Versammlungen in Köthen und Chemnitz wieder einen Auftrieb für neonazistische Demonstrationen auch in anderen Städten. So versammelten sich am 3. Oktober etwa 1 500 Neonazis im Zentrum Berlins. Begleitet wurden sie von maximal 300 Polizisten. Der rechts­extreme Verein »Wir für Deutschland« um Enrico Stubbe hatte wie bereits in den vergangenen Jahren zum Berliner Hauptbahnhof geladen.

Die Route hatte in den vergangenen Jahren durch das ehemalige jüdische Scheunenviertel geführt, die Berliner Polizei hatte sie genehmigt und von Blockaden freigehalten. Diesmal wollten die Neonazis einen Schritt weiter. Sie liefen durch die historische Oranienburger Vorstadt, vorbei an symbolträchtigen Orten wie dem 1990 besetzten und 2012 legalisierten »Schoko­laden« und der Zentrale der Amadeu-Antonio-Stiftung. Die Vorsitzende der antifaschistischen Stiftung, Anetta Kahane, wurde auch in Reden angegriffen. Myriam Kern vom extrem rechten Bündnis »Kandel ist überall« sprach davon, dass Kahane und George Soros »uns unser Land wegnehmen wollen«. Antisemitischer Verschwörungsideo­logie bedienten sich auch andere Redner. Es kam außerdem zu Drohungen gegen Menschen, die gegen den Aufmarsch protestierten. Ein Neonazi rief: »Rein in die Gaskammer!«

Die Neonazis traten selbstbewusst auf. Der Grund war unter anderem eine Polizei, die sie gewähren ließ. Oder, wie es Aktivisten aus dem »Schokoladen« beschrieben: eine Polizei, die den Neonazis den »roten Teppich« ausrollte. Viele Anwohner ließen aus ihren Fenstern Musik dröhnen oder schlugen auf Töpfe. Vereinzelt wurde Wasser auf die Neonazis geschüttet oder Gemüse ­geworfen, größere Störungen gab es jedoch nicht. Die »Danke an die Polizei«-Rufe der Neonazis waren berechtigt, nicht nur für diesen Anlass.

Erst im August waren 600 Neonazis zu Ehren des Hitler-Stellvertreters ­Rudolf Heß durch den Bezirk Mitte und Nordfriedrichshain marschiert. Auf ­ihrem Fronttransparent stand Heß’ Schlusswort beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: »Ich bereue nichts.« Im Auflagenbescheid stand: »Jede ­Verherrlichung von Rudolf Heß in Wort, Schrift oder Bild wird untersagt« – durchgesetzt wurde dies nicht.

Auch im Umgang mit rechtsextremen Gewalttaten erweist sich die Berliner Polizeiarbeit als nicht sehr effektiv. Im September teilte die Staats­anwaltschaft mit, dass die Ermittlungen zu Brandanschlägen auf Autos und ­Angriffen auf Menschen, die sich ­gegen Neonazis in Neukölln engagieren, teilweise eingestellt wurden. Im Kreis der Täter, ­gegen die offenbar keine ausreichenden Beweise vorliegen, werden auch Personen aus dem Umfeld der NPD vermutet.

Kader der Partei suchen mit anderen Teilen der extremen Rechten den Schulterschluss für die angestrebte »Systemwende«.

Der ehemalige ­Landesvorsitzende der Berliner NPD, Sebastian Schmidtke, nahm am Aufmarsch von »Wir für Deutschland« teil. Er lief als Ordner vor der Demonstra­tion, wie auch Alexander B., der Haupttäter der Hetzjagd von Guben, an ­deren Ende in der Nacht des 12. Februar 1999 der Asylbewerber Farid Guendoul durch einen Sturz durch eine Türscheibe tödlich verletzt worden war.

Später griff Schmidtke selbst zum Mikrophon. Seine pathetische Rede beinhaltete alles, was bereits im 1997 von der NPD verabschiedeten »Drei-Säulen-Konzept« festgehalten worden war. Er sprach über die parlamentarische und außerparlamentarische Rechte. Zwar müsse man die Parlamente erobern, so Schmidtke, doch er warnte die AfD vor einer Koalition mit der CDU, denn auch diese sei Teil des Problems. Schmidtke sagte es werde keine Veränderungen durch Wahlen geben, sondern durch eine »friedliche Revolution«.

Schmidtke dürfte diesen Begriff, den manche für das Geschehen am Ende der DDR und den Mauerfall am 9. November 1989 verwenden, nicht zufällig benutzt haben. Dieses Jahr wollen Neonazis an diesem Tag durch Berlin ziehen, Schmidtke warb bereits für ­diesen Aufmarsch. Er bezeichnete den 9. November als »Schicksalstag der Deutschen« und forderte, dass dieser ein Feiertag werden sollte. Aus dem Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938 einen nationalen Feiertag machen – ein Traum für Neonazis.

Während die Polizei gegen Straftaten der Rechtsextremen nicht einschritt – allerdings ermittelt sie mittlerweile in mehreren Fällen –, erfolgte eine Reaktion auf den Gegenprotest sofort. Dieser fand meist abgeschirmt hinter Gittern statt. Gegendemonstranten tanzten, sangen, riefen, pfiffen. Sobald Personen auf der Straße standen oder saßen, wurden sie weggeschubst. Teilweise sprangen Beamte über die Gitter, ­griffen den Gegenprotest an, nahmen Personen in Gewahrsam und erteilten Platzverweise.

Es sind genau diese Bilder, die den Neonazis und ihren vermeintlich ­bürgerlichen Bündnispartnern dazu dienen, ihren »Protest« als recht­mäßig ­erscheinen zu lassen. Die Polizei verhinderte Blockaden des rechts­­extremen Aufmarsches und ging teils gewaltsam gegen keineswegs mili­tante Gegenproteste vor. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte die Genehmigung für den Heß-Marsch damit begründet, »dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung leider auch für Arschlöcher gilt«. Das erklärt allerdings nicht, warum nicht nur in Sachsen, sondern auch im rot-rot-grün regierten Berlin die Toleranzschwelle für Rechtsbrüche der Neo­nazis so hoch ist.