Das EU-Parlament hat mit Stimmen aus der konservativen EVP ein Verfahren gegen Ungarn eingeleitet

Orbáns Unter­stützung bröckelt

Das EU-Parlament hat ein Verfahren gegen Ungarn eingeleitet, das zu Sanktionen führen kann. Dafür stimmten auch Mitglieder der konservativen Europäischen Volkspartei, auf deren Unterstützung sich Ministerpräsident Viktor Orbán bislang verlassen konnte.

Wird es eng für Ungarns autoritäre Politik? Am 12.September beschloss eine Zweidrittelmehrheit des EU-Parlaments, ein Verfahren nach Artikel sieben der EU-Verträge gegen Ungarn einzuleiten, das zu Sanktionen wie dem Entzug der ungarischen Stimmrechte in der EU führen kann. Für das Verfahren stimmten auch Mitglieder der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der die beiden rechtsnationalen ungarischen Regierungsparteien angehören, die Fidesz und die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP). Bislang hatte sich Viktor Orbáns Fidesz auf die Unterstützung der EVP verlassen können. Aber immer offener liebäugelt Orbán mit weiter rechts stehenden euroskeptischen Nationalisten; der NZZ zufolge will er »die EVP nach rechts ziehen und eine Allianz mit den Nationalisten eingehen«.

In seiner jüngsten Rede vor den Abgeordneten bezeichnete Orbán die Abstimmung als Racheakt: Ungarn werde von migrationsfördernden Kräften der EU für seinen Unwillen abgestraft, Migranten aufzunehmen. Tatsächlich jedoch beruht die Eröffnung des Verfahrens auf einem Bericht der niederländischen EU-Abgeordneten Judith Sargentini, der Ungarn eine »systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte« attestiert.

Nachdem Fidesz und KDNP bei der Wahl 2010 zum ersten Mal eine Zweidrittelmehrheit im Parlament gewonnen hatten, verabschiedeten sie 2011 ein neues Grundgesetz und begannen, nach und nach die Befugnisse des ungarischen Verfassungsgerichts zu schwächen. Es ging um eine fundamentale Transformation von Staat und Politik mit dem Ziel der Machtkonzentration in den Händen der Exekutive, um das, was Orbán als »illiberale Demokratie« bezeichnet.

Dabei galt das ungarische Verfassungsgerichts einst als Vorreiter der Demokratisierung post-realsozialistischer Staaten in Mittel- bis Osteuropa. Ihm standen viele Verfahrensarten und Prüfungsmöglichkeiten zur Verfügung, was ein institutionelles Novum darstellte.

Doch die ungarische Regierung hat die Kompetenzen des Gerichts systematisch eingeschränkt und es ihrer politischen Vormacht unterworfen. Mittlerweile liegt das Vorschlagsrecht für Verfassungsrichter bei den Regierungsparteien und nicht mehr bei einem Nominierungsausschuss, der aus mindestens einem Mitglied jeder Parlamentsfraktion bestand. Gewählt werden diese Kandidaten nun mit mindestens zwei Dritteln der Stimmen der Parlamentsabgeordneten. Die von Fidesz und KDNP vorgeschlagenen Kandidaten können also einfach durchgewinkt werden. Die Zahl der Verfassungsrichter wurde von elf auf 15, ihre Amtszeit von neun auf zwölf Jahren erhöht.

Das Verfassungsgericht hat nur noch formale und keine substantiellen Prüfungskompetenzen bei Gesetzesänderungen. Es prüft Gesetze also nicht mehr inhaltlich, sondern nur verfahrensrechtlich. András Körösényi, Dozent an der Ungarischen Akademie der Wissenschaft, zufolge bricht die Regierung die Herrschaft des Rechts und setzt die politische Mehrheit über diese.

Im Juni verabschiedete die Fidesz-KDNP-Koalition die insgesamt siebte Grundgesetzänderung. Darin wurde  der Schutz der christlichen Kultur und ein Verbot der Ansiedlung »fremder Bevölkerung« in das Grundgesetz aufgenommen, um die geplante EU-Verteilungsquote für Geflüchtete in Ungarn verfassungswidrig zu machen. Zudem wurde ausgerechnet am Weltflüchtlingstag  in einem neuen Gesetzespaket, das die Fidesz pikanterweise in Anspielung auf den liberalen Milliardär und Mäzen George Soros als »Stop Soros«-Paket bezeichnete, die Strafverfolgung von Flüchtlingshelfern ermöglicht. Ungarischen Statistiken zufolge befanden sich im April 3?555 Flüchtlinge in dem Land mit zehn Millionen Einwohnern, in den ersten vier Monaten des Jahres wurden demnach 342 Asylsuchende registriert.

Die dem Europarat zugehörige Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, auch bekannt als »Venedig-Kommission«, kritisierte bereits früh die Entwicklungen in Ungarn, vor allem die Einschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts. Konsequenzen gab es seither keine. Auch das nun eingeleitete Verfahren dürfte kaum erfolgversprechend sein, da der Entzug des Stimmrechts Ungarns in der EU einstimmig von allen EU-Mitgliedstaaten beschlossen werden müsste. Gegen die polnische PiS-Regierung, die nach ungarischem Vorbild die Befugnisse des polnischen Verfassungsgerichts eingeschränkt hat, läuft seit Dezember bereits ein ebensolches Verfahren. Beide Regierungen haben sich gegenseitige Unterstützung zugesichert. Zudem signalisierten die tschechische und rumänische Regierung ihre Bereitschaft, gegen das Verfahren ihr Veto einzulegen.