Über die Ablehnung des Westens von links

Monotonie der Ablehnung

Obwohl Idee und Wirklichkeit des liberalen Westens von autoritären Regimen und der politischen Rechten herausgefordert werden, kann die Linke in ihm nichts anderes als ein Feindbild sehen. Über Gegenwart und Geschichte einer verhängnisvollen Tradition.
Essay Von

Das Cover der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Konkret zeigt die Konterfeis von Trump, Macron, May und Merkel, montiert in eine Abbildung von ­Albrecht Dürers Holzschnitt »Die vier apokalyptischen Reiter«. Der mit der biblischen Schreckensvision illustrierte Leitartikel mit dem Titel »Sie wollen Krieg« stammt aus der Feder des Herausgebers Hermann L. Gremliza. Sein Anlass waren die Luftangriffe der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs auf Syrien im April, die in Reaktion auf einen mutmaßlich von der ­regimetreuen Armee durchgeführten Giftgaseinsatz beschlossen wurden. Doch wie alle Kriege des Westens beruhe auch der gegen Syrien auf ­einer Lüge, so Gremliza. Er richte sich nicht gegen den vermeintlichen Giftgaseinsatz Assads, sondern gegen Russland und China als Dauerzielscheibe westlicher Geopolitik. In Wahrheit gehe es darum, »die Landmasse zwischen Ostsee und Pazifik« der »Verwertung durch das Kapital einer Handvoll westlicher Führungsmächte zu unterwerfen«, so Gremliza weiter.
Schlimmer als die Nazis

Der Antiimperialismus Gremlizas, ein Autor, der sich viel auf sein Sprachbewusstsein einbildet, ist mit einer rhetorischen Drastik versehen, die es in sich hat: So habe der »Endsieg des Kapitalismus (…) die Ver­wertung aller materiellen Werte entfesselt und alle ideellen zertrümmert«. Der Wirtschaft und ihren Bediensteten aus Politik und Medien gehöre bereits »heute die ganze Welt«, doch wollten sie noch mehr Profit aus geraubten Ressourcen und eroberten Märkten schlagen. Kritische ­Erwägungen würden den Kriegsbefürwortern an ihren »vergoldeten Ärschen« vorbeigehen. Blindlings marschierten sie weiter, »bis alles in sehr kleine Scherben« fällt. Mit den Anspielungen auf NS-Parolen und den Propagandahit der Deutschen Arbeitsfront wird die von Profitinteressen bestimmte Handlungslogik der westlich-kapitalistischen Staaten mit der Irrationalität nationalsozialistischer Herrschaft auf eine Stufe gestellt. Der Wirkungszusammenhang allgemeiner kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten und konkreter, historischer Bedingungen erscheint als personalisierte Schuld geldgeiler Eliten aus den westlichen Kern­staaten, der das Zerstörungspotential des Nationalsozialismus noch übertrifft. Dagegen werden die kapitalistischen Atommächte China und Russland als Opfer gezeichnet.

An der apokalyptischen Vision von Konkret ist nur so viel richtig, dass der Zustand der internationalen Politik wenig Anlass zu Optimismus gibt. Tatsächlich haben nach dem Ende der Blockkonfrontation Kriege und internationale Krisen zugenommen. Die Vielzahl zwischenstaatlicher Konflikte und die geopolitischen Rivalitäten zwischen alten und neuen Weltmächten unterliegen nicht mehr stabilisierenden Regulierungsbedingungen wie zur Zeit des Kalten Kriegs. Ethnische und religiöse Zugehörigkeiten sowie räumliche Bezüge, die sich an imperiale Einflusszonen des 19. Jahrhunderts anlehnen, sorgen für explosive Kons­tellationen, die sich allerdings nicht auf den Nenner eines westlichen, vom Mehrwertraub getriebenen Imperialismus bringen lassen. Das Spottbild von Konkret bietet keine angemessene Illustration einer ­unübersichtlichen Weltlage, die zweifelsohne von der globalen Herrschaft des Kapitals, aber ebenso von unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und historischen Entwicklungen geprägt ist. Stattdessen handelt es sich um die neuerliche Auflage ­eines alten Feindbildes, dessen Erklärungsanspruch in den ideologischen Verzerrungen vergangener Epochen wurzelt.

 

Krise des Westens

Erscheint der Westen bei Gremliza als Phalanx des Bösen – mächtig, geeint und in seiner Destruktionskraft geradezu omnipotent –, befindet er sich tatsächlich in der Krise. Fast alle westlichen Kernstaaten ringen mit Kräften, die von innen auf eine Renationalisierung drängen. Nicht alles, was heutzutage landläufig unter Populismus subsumiert wird, stellt das »Freiheitsnarrativ« (Michael Kimmage) des Westens in Frage. Doch wird seinem Versprechen von individueller Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das Wunschbild einer homogenen Gemeinschaft unter autoritärer Führung entgegengesetzt, dann ist die normative Basis ­liberaler Staaten tatsächlich bedroht.

Die Renaissance der rechten Wunschvorstellung ethnischer Homogenität und das Ziel der Rückgewinnung nationalstaatlicher Handlungsmacht, wie es etwa auch in der »Brexit«-Entscheidung steckt, fallen nicht in eins. Beides sind aber Reak­tionen auf die sozialen Folgen von Globalisierung und technologischer Modernisierung. Der Westen laboriert heute an den Konsequenzen seines Wirtschaftsmodells. Soziale Ungleichheit, Angst vor Abstieg und Befürchtungen, im dynamischen Takt der technologischen Entwicklung nicht mithalten zu können, sorgen fast überall in Europa für den Auftrieb antiliberaler Kräfte. Die sogenannten Volksparteien versprachen in ihrer konservativen und sozial­demokratischen Grundausprägung viele Jahrzehnte die Vereinbarkeit von sozialer Sicherheit und gemäßigter Modernisierung. Seit dem in den neunziger Jahren einsetzenden Globalisierungsschub stehen sie vor dem Dilemma, dass soziale ­Anwartschaften weiterhin nationalstaatlich organisiert werden, dies aber der Realität von Einwanderung und neuen Formen gesellschaftlicher Zugehörigkeit widerspricht. Ein Ergebnis ist die tendenzielle Destabilisierung des politischen Systems. Neue Parteien machen den ehedem etablierten die Wähler streitig und populistische Bewegungen stellen die parlamentarische Repräsen­tation gesellschaftlicher Interessen infrage.

Zugleich wird der Westen von China und Russland herausgefordert, die mit staatlich gelenktem Kapitalismus und autokratischer Herrschaft für innere Stabilität sorgen. Ihr Aufstieg geht mit wachsender militärischer Stärke und globalen Interessen einher, die in der Ukraine, in Syrien, in der Asien-Pazifik-Region und an anderen Brennpunkten mit denen des Westens in Konflikt geraten.

Obwohl er sich also geopolitisch neuen Rivalen gegenübersieht, bröckelt seit dem Ende des Kalten Krieges der Zusammenhalt des Westens. Die trans­atlantischen Institutionen EU und Nato sind von Friktionen zwischen ­ihren Mitgliedern geprägt. Ökonomische Konkurrenz und sicherheits­politische Dispute produzieren Desintegration, wie sie sich etwa in der Griechenland-Krise, am britischen EU-Austrittsvotum oder der wiederholten Verweigerung Deutschlands bei militärischen Interventionen des Westens im Irak, Libyen oder Syrien zeigte.


Der Trump-Faktor

Inwiefern Donald Trumps undurchsichtige Diplomatie über tagespoli­tische Ereignisse hinaus zur Verschärfung dieser Krise beiträgt, ist noch nicht abzusehen, aber es ist zu befürchten. Der Präsidentendarsteller, der mit seiner Entscheidung zur Bombardierung syrischer Militäranlagen Russlands weltpolitischen Ambitionen vermeintlich Grenzen aufzeigte, reicht dem Despoten Wladimir ­Putin nur wenige Monate später kumpelhaft die Hand, weil er Deals unter starken Männern mehr zu schätzen scheint als die transatlantische Partnerschaft. Falsch wäre es indes, die Vorgehensweise Trumps als Ursache der grundlegenden Differenzen anzunehmen, sie bringt sie lediglich freiheraus auf den Tisch.

Das zeigt etwa der Streit über die Nato-Finanzierung. In der Sache wiederholte Trump nur Positionen ­seiner Vorgänger. Unstimmigkeiten über die Lastenteilung sind so alt wie das westliche Bündnis selbst. Bereits Konrad Adenauer und Helmut Schmidt wehrten sich gegen amerikanische Forderungen, die deutschen Nato-Beiträge zu erhöhen. Die Regierungen des wiedervereinigten Deutschland verfahren nach dem gleichen Muster. Tatsächlich hatten alle Mitgliedstaaten bereits 2002 beschlossen, ihre Militärhaushalte an der Marke von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu orientieren; 2014 wurde dann unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim verbindlich vereinbart, diese Vereinbarung bis 2024 auch zu rea­lisieren. Gleichwohl verharrte der deutsche Verteidigungsetat bislang bei etwa 1,2 Prozent des BIP. Unter der Maßgabe von Bündnissolidarität gab und gibt es für amerikanische Unzufriedenheit also genügend ­Anlass.

Mit dem Wegfall des Systemkonflikts findet die Auseinandersetzung über den Preis der Bündnisinte­gration auf bröckelnder Grundlage satt. Weil sich der geostrategische und ideologische Kitt des Westens aufgelöst hat, verfolgen einzelne Staaten abweichende Bündnisoptionen. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre prognostizierte John J. Mearsheimer, Vertreter der neorealistischen Denkschule in den Internationalen Beziehungen, in seinem Text »Back to the Future« ein gesteigertes ­Autonomie- und Einflussstreben der ­jeweiligen Nato-Mitgliedstaaten. Trump stellt das Bündnis nun tatsächlich unverblümt zur Disposition, nicht ohne 24 Stunden später an ­einer Allianz mit gerechterer Lastenverteilung festzuhalten. Das Hin und Her ist Abbild der porösen Struktur der westlichen Allianz.

Was hierzulande droht, wenn sich die Tendenz zur Renationalisierung fortsetzt, lässt sich an den Reaktionen der deutschen Politik ablesen. Nachdem Trump im Mai 2017 Deutschlands Bündnisbeitrag als unzureichend kritisiert hatte, verkündete Kanzlerin Angela Merkel das Ende der amerikanischen Verlässlichkeit. Europa müsse jetzt sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Noch offensiver fiel die Reaktion des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz aus: Europa solle »vor allem (…) mit Selbstbewusstsein« auf die amerikanischen Forderungen reagieren und sich der »Aufrüstungslogik eines Donald Trump nicht unterwerfen«. Ähnliches war von Katja Kipping (Linkspartei) und vom grünen Spitzenpolitiker Jürgen Trittin zu ­hören.

Die ostentativsten Einforderungen nationaler Selbstbehauptung gegen Amerika kommen immer wieder von links. Zwar geißelten alle politischen Entscheidungsträger in Deutschland Washingtons Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran, doch der Verleger und Chefredakteur des Freitag, Jakob Augstein, prangerte in seiner Spiegel-Online-Kolumne »Im Zweifel links«, Deutschlands unterwürfige Haltung an: Weil die Deutschen sich nicht am »antiimperialistischen Kampf« gegen Amerika ­beteiligen würden, hielt er ihnen in Abwandlung des traditionsreichen Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung »Feigheit vor dem Freund« vor. ­Oskar Lafontaine schimpfte die Amerikaner auf Facebook »verlogenes Pack«, »Kriegstreiber« und »Brandstifter«. Sie seien »nicht zum Frieden geeignet«. Er forderte die selbst­bewusste Vertretung deutscher Interessen ein.

Nach dem jüngsten Nato-Gipfel im Juli war es nicht anders: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen rief dazu auf, sich »nicht immer die Agenda von Trump bestimmen (zu) lassen«. Der ehemalige Außen­minister Sigmar Gabriel warf Trump vor, in Deutschland einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen, was »wir uns schwer bieten lassen« ­können. Der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, zürnte, weil sich Merkel der amerikanischen »Aufrüstungsideologie unterworfen« habe und der in Sachen Amerika-Feindschaft notorische ­Oskar Lafontaine wartete in der Talkshow von Maybrit Illner mit dem Hinweis aus dem Arsenal der Reichsbürger auf, Deutschland sei »auch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg (…) immer noch kein souveränes Land«.

Amerika ist schuld

Die Reaktionen der deutschen Politik geben also kaum anders als Trumps Drohungen, das westliche Bündnis abzuwerten und eigene Wege in der Weltpolitik einzuschlagen, einer mehr und mehr nationalisierten Interessenpolitik Ausdruck. Insofern erweist sich die allgegenwärtige Zuschreibung, Trump trage die Hauptschuld, eher als Reflex denn als treffende Analyse. Amerikakritische Haltungen dominierten auch vor Trumps Zickzack-Diplomatie. Schon Ronald ­Reagan (Amtszeit: 1981–1989) blieb den meisten Deutschen als Wett­rüster im Gedächtnis. George H. W. Bush (1989–1993) und sein Sohn George W. (2001–2009) galten beide als »Kriegstreiber«. In Bill Clinton (1993–2001) und Barack Obama (2009–2017) setzte man hingegen große Hoffnungen; sie seien zurückhaltende Außenpolitiker. Als sie sich gleichwohl als Verteidiger amerika­nischer Sicherheitsinteressen exponieren mussten, verwandelte sich die projektive Sympathie schnell in herbe Enttäuschung. Insofern ist die Ablehnung von Trump kein Sonderfall.

Wenn allerdings Amerikas Präsident heutzutage selbst von Verteidigern guter transatlantischer ­Beziehungen als derjenige angegriffen wird, der »als erster US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg (…) Idee und Institutionen der liberalen internationalen Ordnung grundsätzlich infrage« stellt, wie in einem ­unter anderem vom Geschäftsführer des »Zentrums Liberale Moderne«, Ralf Füchs, unterzeichneten Manifest geschehen, dann ist schon wieder vergessen, dass der Vorwurf »Amerika zerstört den Westen«, wie es 2005 in der Zeitschrift Stern zu lesen war, bereits zur Begleitmusik der Irak-Kriegskontroverse und der Debatte über den Krieg gegen den Terror gehörte.

Das unablässige Tremolo der Amerika-Kritik findet in der Volksmeinung Widerhall. Einer aktuellen Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach zufolge wird das Auf­treten der Vereinigten Staaten hierzulande überwiegend als Dominanz empfunden. 66 Prozent der Deutschen haben den Eindruck, die Vereinigten Staaten verträten ihre Inter­essen rücksichtsloser als andere; eine Mehrheit von 54 Prozent schätzt den amerikanischen Einfluss als negativ ein; 40 Prozent sehen von den USA die größte Gefahr für den Weltfrieden ausgehen. Im breiten Strom der ­anhaltenden Ablehnung Amerikas schwimmt der linke Antiimperia­lismus mit.
»Misthaufen der Geschichte«

Tatsächlich wittert die antiimperialistische Linke gegenwärtig Morgenluft. Zumindest betrübt sie die Krise des Westens nicht. In der Juni-Aus­gabe von Konkret beschrieb Jörg Kronauer ihn jüngst fast richtig als von Interessengegensätzen durchzogenes Überbleibsel des Kalten Kriegs, aber ohne seine zivilisatorische Dimension zu würdigen. Rhetorisch fragte er, ob der Westen nun tatsächlich zerfalle, um mit Bedauern zu antworten: »Wenn’s so einfach wäre.« Die eigenartige »Mischung aus Kooperation und Konfrontation« rieche zwar »merkwürdig«, unklar sei aber, ob es sich schon um Leichengeruch ­han­dele. Alexander Neu, Mitglied des Bundestags für »Die Linke«, ­würde es »sehr, sehr begrüßen, wenn die US-Amerikaner deutschen ­Boden verlassen würden – inklusive ihrer 20 Atombomben, die in Büchel noch gelagert sind«. Und die Tageszeitung Junge Welt freute sich über Tausende von Demonstranten, die anlässlich des Nato-Gipfels in Brüssel die Forderung erhoben, die Allianz auf den »Misthaufen der Geschichte« zu werfen.

Wenn es »Make Nato History« heißt, marschieren straßenkampf­affine Mitglieder der Interventio­nistischen Linken (IL) einträchtig mit den DDR-Sympathisanten der DKP. Es muss etwas anderes sein als ein pazifistischer Impuls, wenn die ­Junge Welt gegen das Sicherheitsbündnis der westlichen Staatenwelt unter anderen die »Soldaten für den Frieden« zu Wort kommen lässt, bei ­denen es sich um die »Führungsspitze der ehemaligen DDR-Streitkräfte« handelt. Die gibt die verlogene Selbstauskunft, Frieden sei schon immer »die wichtigste Maxime« ihres Handelns gewesen, weshalb sie heute umso entschiedener dagegen protestieren, »dass der militärische Faktor erneut zum bestimmenden Instrument der Politik wird«, wie es im Mai 2015 in der Zeitung zu lesen war.
In dieser Front gegen den westlichen Imperialismus, als dessen nahöstlicher Exponent bekanntlich ­Israel gilt, darf die katholische Organisation Pax Christi nicht fehlen, die zum Verzicht auf den Kauf von Waren aus israelischen Siedlungen aufruft.

Demonstrationen gegen die Nato werden nicht zuletzt von ­Jeremy Corbyn, dem Vorsitzenden der britischen Labour Party, unterstützt, dem zum Staat der Holocaust­überlebenden nichts Positives einfällt, sowie von Noam Chomsky und Tariq Ali, prominenter Befürworter von Boycott, Divestment and Sanctions (BDS).