Co-Living in Berlin

Auf der Arbeit leben

Das sogenannte Co-Living verbreitet sich allmählich auch in Deutschland. Vor allem junge Selbständige aus der Digitalwirtschaft finden es attraktiv, mit anderen aus ihrer Branche nicht nur zusammenzuarbeiten, sondern auch zusammenzuwohnen. Die Trennung zwischen Privatem und Beruflichem vollständig aufzuheben, wird in dem neuen Geschäftsmodell als großes Versprechen verkauft.

Vanessa Robayo gehört zu der Gruppe junger Erwachsener, die Soziologen gerne als »digitale Nomaden« bezeichnen: zu den Selbständigen und Unternehmensgründern, die in der expandierenden Digital- und Kreativwirtschaft arbeiten und sich selten lange an einem Ort aufhalten. Wie viele der digitalen Nomaden kann Robayo schon mit Mitte 20 einen Lebenslauf mit internationalen Stationen vorweisen. Die 26jährige hat in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und im französischen Grénoble studiert. Nach einem Praktikum im niederländischen Eindhoven wohnt und arbeitet die Absolventin eines Masterstudiums in »Innovation, Strategy and Entrepreneurship« seit August vergangenen Jahres in Berlin.

Robayo ist Freelancerin. Ihre Spezia­lität ist eine Methode, die sich »Design Thinking« nennt. »Design Thinking hilft Unternehmen, die Bedürfnisse ihrer User besser zu verstehen«, sagt ­Robayo. »So können sie Produkte entwickeln, die den Wünschen ihrer Kunden möglichst gut enstprechen.« Die Kolumbianerin schult das Personal großer Unternehmen in dieser Methode, die sich an der Arbeit von Designern orientiert. Wie lange sie noch in Berlin bleiben wird, weiß Robayo nicht. »Was meine berufliche Zukunft angeht, ist im Moment noch immer sehr vieles ungewiss. Außerdem muss ich regelmäßig ein neues Arbeitsvisum be­antragen.«

Als in der digitalen Wirtschaft tätige Selbständige mit internationaler ­Arbeitsbiographie und unsicherer ­Zukunftsperspektive ist Robayo die ­ideale Kundin für Unternehmen wie Happy Pigeons. Das Startup gehört zu den ersten Berliner Anbietern eines neuen Wohn- und Arbeitsmodells, für das sich der Begriff Co-Living etabliert hat. Dem Magazin The New Yorker zufolge begann die Geschichte von ­Co-Living 2014 in San Francisco, als Programmierer weitläufige Häuser im viktorianischen Baustil in »Hacker-­Villen« verwandelten. Anfangs sollen die jungen Softwareentwickler, die dort gemeinsam ihre Geschäftsideen entwickelten, in Stockbetten geschlafen haben.

Happy Pigeons bietet seit April vergangenen Jahres die Möglichkeit zum Co-Living in Berlin an. An zwei Orten in der Stadt vermietet das junge Unternehmen Zimmer. »Die Berufsfelder unserer Mitglieder sind sehr vielfältig. Meistens hat ihre Arbeit aber irgend­etwas mit der Kreativbranche zu tun«, sagt Kai Drwecki. »Bei uns wohnt der Programmier, der für ein Startup arbeitet, aber auch ein DJ, der nebenbei für ein Online-Magazin schreibt.« Der 28jährige Berliner hat in den USA und in Deutschland Wirtschaftspsycho­logie und in Frankreich Innovationsmanagement studiert. Die Co-Living-Vermietung hat er im April 2017 zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Marc begonnen.

Vanessa Robayo wohnt zusammen mit einer Mitbewohnerin in einer Zweizimmerwohnung in Charlottenburg. Zum Arbeiten fährt sie fast jeden Tag nach Prenzlauer Berg. Dort ver­mietet Happy Pigeons nicht nur WG-Zimmer, sondern stellt den Mieterinnen und Mietern auch einen kleinen ­Co-Working-space zur Verfügung. Co-Working findet in Berlin mittlerweile an über 100 verschiedenen Orten statt. Einer aktuellen Studie des Co-Working-Magazins Deskmag zufolge gibt es weltweit über 15 500 Co-Working-spaces, in denen insgesamt 1,27 Millionen Menschen arbeiten.

Weil Freelancer als Wanderarbeiter der Digitalwirtschaft meist nicht wissen, wie lange sie an einem Ort bleiben, sind Co-Living-Zimmer in der Regel vollständig möbliert.

Co-Working ist mit der in der Kreativ- und Startup-Branche verbreiteten Vorstellung verbunden, dass die meist digitale Arbeit nicht nur dem Geld­erwerb, sondern auch der Selbstverwirklichung dienen soll. Eine stetig wachsende Gemeinde flexibler Kreativarbeiter, die sich pausenlos vernetzen und sich gegenseitig inspirieren – das ist das Ideal der Branche. »Als wir ›We Work‹ 2010 gründeten, wollten wir mehr erschaffen, als ansprechende Co-­Working-Büroräume. Wir ­wollten eine Community aufbauen«, heißt es auf der Website von We Work, ­einem der weltweit größten Anbieter von Co-Working-spaces. »Einen Ort, den man als Individuum betritt, an dem ­jedoch das Ich Teil eines größeren Wir wird. Ein Ort, an dem wir Erfolg neu definieren: als Kennzahl unserer persönlichen Erfüllung, nicht nur anhand von Bilanzergebnissen.«

Co-Living erweitert dieses Co-Working-Prinzip noch. Als Mitglieder einer ­Co-Living-Hausgemeinschaft sollen die Co-Worker – der Begriff »Co-Liver« hat sich bislang noch nicht durchsetzen können – nicht nur im selben Gebäude arbeiten, sondern auch wohnen. Weil Freelancer als Wanderarbeiter der Digitalwirtschaft meist nicht wissen, wie lange sie an einem Ort bleiben, sind Co-Living-Zimmer in der Regel vollständig möbliert. Das ist auch bei Happy Pigeons nicht anders. »Ich weiß nicht, wo und wie ich in ein paar Monaten ­arbeiten werde«, sagt Vanessa Robayo. »Deshalb würde ich im Moment auf keinen Fall nach einem Zimmer suchen, für das ich Möbel kaufen müsste.«

Wie in den meisten anderen Co-Living-Häusern ist die Einrichtung der Zimmer auch bei Happy Pigeons dem Geschmack junger, hipper Digital- und Kreativarbeiter angepasst. »Wir haben versucht, in unseren Zimmern den ­typischen Berlin-Charakter herzustellen«, erläutert Unternehmensgründer Kai Drwecki das Einrichtungskonzept seiner Firma. »Die Möbel sind – zuge­gebenermaßen etwas stereotyp – größtenteils vintage. In zwei Zimmern haben wir die Tapete abgezogen, in einem anderen eine Flügeltür eingesetzt.«

Happy Pigeons ist mit vier Wohnungen und zehn Einzelzimmern einer der kleinsten Co-Living-Anbieter in Berlin, wo das neue Geschäftsmodell gerade erst angekommen und der Markt noch dementsprechend überschaubar ist. Auch die Preise für eine Mitgliedschaft sind hier vergleichsweise niedrig. Ein Einzelzimmer inklusive Nutzung des Co-Working-Raums gibt es ab 650 Euro im Monat. Rent 24, einer der größten Anbieter von Co-Working-spaces in Deutschland, hat diesen Sommer im Berliner Stadtteil Schöneberg ein Co-Living-Haus mit 51 Zimmern und über 150 Betten eröffnet. Für ein Einbettzimmer verlangt das Unternehmen 1 400 Euro im Monat, ein Vierbett­zimmer gibt es ab 2 800 Euro, Co-Working-Nutzung nicht inbegriffen. In ­Berlin, Hamburg und Chemnitz will der Großanbieter demnächst weitere Standorte eröffnen.

Im internationalen Vergleich wirken allerdings auch die Ambitionen von Rent 24 beschaulich. Das Old Oak, ein Co-Living-space im Londoner Nord­westen, erstreckt sich über zehn Stockwerke und zählt 546 Einbettzimmer. Roam, einer der größten Unternehmen der Branche, bietet das neue Arbeits- und Wohnmodell in San Francisco, Tokio und auf Bali an. Ein Zimmer in einem dieser Co-Living-spaces kostet mindestens 500 Dollar in der Woche beziehungsweise mindestens 1 800 Dollar im Monat.