Long Talk - Ein Gespräch mit dem französichen Politologen Nedjib Sidi Moussa über die Konfessionalisierung der sozialen Frage

»Die Rede von Islamophobie stiftet Verwirrung«

Seite 2 – Der »umgekehrte Orientalismus«
Long Talk Von

 

Der Kampf bestimmter Fraktionen der radikalen Linken gegen »Islamophobie« ist zwar redlich, aber der Begriff stiftet Verwirrung. Manche verstehen darunter einfach eine zu bekämpfende Diskriminierung tatsächlicher oder vermeintlicher Muslime. Wäre das alles, hätte ich damit keine großen Probleme, auch wenn »Hass auf Mus­lime« oder »antimuslimischer Rassismus« vielleicht treffendere Begriffe wären. Aber einige Strömungen betreiben das, was der syrische Marxist Sadiq Jalal al-Azm »umgekehrten Orientalismus« genannt hat: Sie idealisieren den Islam und die islamische Kultur und schrecken vor jeder Kritik problematischer Aspekte zurück, denn das würde sich angeblich gegen die Proletarier, die Unterdrückten, die Leute in den ärmeren Vierteln richten. »Vielleicht sind die einfach anders als wir«, so der Gedanke dahinter, denn manche Aktivisten sehen sich als privilegiert, weil sie weiß, kleinbürgerlich und gebildet sind – was in Paris teilweise stimmt, aber sicher nicht für alle ­Radikalen in Frankreich gilt.

Mit ihrem Verzicht auf Kritik wollen sie sich von der extremen Rechten ­abgrenzen, spielen damit aber dem reaktionären Klerus in die Hände. Ini­tiativen wie das Collectif contre l’Islamo­phobie en France verstehen unter »­Islamophobie« nicht nur Angriffe auf Individuen, sondern auch auf Institu­tionen. Dabei ist doch ein Angriff auf eine Frau, die das Kopftuch trägt, und Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt etwas völlig anderes als eine Kritik an religiösen Institutionen, Moscheen oder der Religion an sich.

Deshalb verwende ich den Begriff nicht. Der Kampf um seine Definition ist entschieden: Er wird in dem eben beschriebenen Sinne verbreitet. Es ist bedauerlich, dass die Beiträge des britisch-indischen Intellektuellen Kenan Malik, der den Begriff ebenfalls kritisiert, nicht auf Französisch vorliegen.

 

»Wenn es in Frankreich heute einen gewaltförmigen Rassismus gibt, dann richtet er sich gegen Arbeiter jeder Abstammung, gegen Arme und Arbeits­lose, gegen Migranten ohne Papiere. Man mag mir eine Fixierung auf die Klasse vorwerfen, aber diese Realität lässt sich nicht wegreden.«

 

Und der Staat? Die Linken, über die wir hier reden, werfen ihm eine ­antimuslimische Politik war.
Wenn es in Frankreich heute einen gewaltförmigen Rassismus gibt, dann richtet er sich gegen Arbeiter jeder Abstammung, gegen Arme und Arbeits­lose, gegen Migranten ohne Papiere. Man mag mir eine Fixierung auf die Klasse vorwerfen, aber diese Realität lässt sich nicht wegreden. Hautfarbe, unterstellte Religion oder »Kultur« spielen dabei keine zentrale Rolle, anders als manche Identitätswächter behaupten. Es ist weder soziologisch zutreffend noch politisch fair, die »weißen« Arbeiter den anderen gegenüberzustellen, denn trotz starker Differenzen und Spannungen stehen alle vor denselben Problemen. Zum anderen kann ich nicht sehen, dass der französische Staat Menschen als Muslime diskriminiert oder gar verfolgt. Und schon gar nicht ist die Situation mit der der Juden in den dreißiger Jahren vergleichbar – und Antisemitismus ist in Frankreich noch immer ein reales Problem.

Ein solcher Vergleich wäre auch irrwitzig.
Ja, aber in den Köpfen mancher Antirassisten und Linker existiert er. Wäre er treffend, dann müsste man aus Frankreich fliehen oder Krieg gegen das »französische Regime« führen.

Aber wie werten Sie die Debatte über das Kopftuch oder die Versuche, »Burkinis« zu verbieten?
Es ist unbestreitbar, dass innerhalb der allgemeinen Marginalisierung von ­Arbeitern diejenigen mit einem Migrationshintergrund – aus dem Maghreb und anderen ehemaligen Kolonien – besonders betroffen sind. Und seit 1905 das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat verabschiedet wurde, hat sich der französische Laizismus ver­ändert. Das Trennungsgebot ist zugunsten der katholischen Kirche aufgeweicht worden, die noch immer die vorherrschende Religion ist und – leider – nicht alle ihre Privilegien ver­loren hat. Das ist immer zu bedenken, wenn wir über die »Muslimfabrik« ­reden.

Bestimmte vorgeblich laizistische Maßnahmen waren in Wirklichkeit nicht unbedingt laizistisch und haben die Aufregung über »die muslimische Frage« angefacht. Aber eine systematische, umfassende Diskriminierung praktizierender Muslime sehe ich nicht. Dass Menschen maghrebinischer ­Herkunft zum Beispiel schwerer eine Wohnung finden, hat mit Kolonial­geschichte, Algerien-Krieg und Arbeitsmigration, aber nichts mit Religion zu tun.

In Ihrem Buch erfährt man viel über die Betreiber der »Muslimfabrik«, aber weniger über die ihr zugrundeliegende Veränderung der Gesellschaft. Das Ende der Vollbeschäftigung, der Niedergang der großen Fabrik mit ihrer »gemischten« Belegschaft, das Entstehen ­einer stärker auf Familie und »Community« gegründeten Ökonomie ­innerhalb der migrantischen Bevölkerung – wäre das nicht zu berücksichtigen?
Das schmale Buch erhebt nicht den Anspruch, alle Aspekte zu behandeln; es fokussiert – vielleicht zu sehr – die subjektive Dimension. Natürlich können wir die »Muslimfabrik« nicht abgelöst vom Kapitalismus und dessen jüngeren Veränderungen begreifen. Die Figur namens »der Muslim« taucht auf, als die Figur des Arbeiters allmählich aus der Öffentlichkeit verschwindet. Aber die Arbeiterklasse, Lohn­arbeit, Ausbeutung sind nicht verschwunden. Was es gegeben hat, sind Schließungen und Auslagerungen von Fabriken. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren konnte die ­Fabrik Integration fördern, durch gemeinsame Kämpfe gegen Ausbeutung, gegen den Boss – denselben Boss –, sei es inner- oder außerhalb der Gewerkschaften. Dieser Rahmen scheint, zumindest in Frankreich, nicht mehr zu existieren.

Es geht nicht um eine Idealisierung der Vergangenheit. Aber wenn wir zum Beispiel Artikel aus der rätesozialistischen Zeitschrift Socialisme ou Barbarie aus den fünfziger Jahren lesen, dann wird deutlich, dass in den Fabriken zwar Rassismus existierte – die großen Arbeiterorganisationen waren nationalistisch –, aber trotzdem gemeinsame Kämpfe gegen Ausbeutung stattfanden.

Ich lese oft die Anmerkungen zur »Einwandererfrage«, die Guy Debord 1985 dem algerischen Postsituationisten Mezioud Ouldamer schickte – ein Echo der Debatten nach dem »Marsch für die Gleichheit und gegen den Rassismus« von 1983. Debord schreibt: »Wir haben uns selbst zu Amerikanern gemacht. Es überrascht nicht, dass wir hier die elenden Probleme der USA finden, von Drogen bis zur Mafia, von Fast Food bis zur Ausbreitung von Ethnien.« Fernab von jedem antiamerika­nischen Ressentiment würde ich auf diese pessimistische, aber realistische Analyse drei Jahrzehnte später antworten, dass es die Hauptaufgabe von Revolutionären in New York, Algiers, Paris oder Istanbul ist, einen genuinen Internationalismus wiederzubeleben – antikapitalistisch, antiklerikal und antirassistisch.